Bis anhin dominieren die USA und China das Wettrennen um die künstliche Intelligenz, jetzt will Japan aufholen. Vier Gründe sprechen dafür, dass der Plan gelingen könnte.
Der Chef des Technologieinvestors Softbank, Masayoshi Son, ist wie ein Seismograf für Trends in der künstlichen Intelligenz. Seit Jahren investiert er zig Milliarden vor allem in KI-Unternehmen in den USA. Er ist sogar federführend am US-Projekt Stargate beteiligt, das in den kommenden Jahren 500 Milliarden Dollar in die amerikanische KI-Infrastruktur investieren will. Doch jetzt, da Unternehmen auf der ganzen Welt beginnen, künstliche Intelligenz in ihren Alltag zu integrieren, setzt er auf seine Heimat Japan.
Gemeinsam mit dem KI-Mega-Startup Open AI entwickelt Softbank seit Februar KI-Anwendungen für Unternehmen in Japan, um sie dann in die Welt zu exportieren. «Japan First», versprach der Softbank-Chef Son damals vor mehr als 500 Unternehmensvorständen.
Son ist längst nicht mehr der Einzige, der optimistisch ist, dass Japan hinter den USA und China eine führende Rolle bei KI spielen kann. Auch Yutaka Matsuo, Professor an der Tokio-Universität und einer der führenden KI-Experten des Landes, sagt: «Japan hat eine grosse Zukunft im Bereich der KI.»
Globale KI-Grössen bestätigen seine These, indem sie nach Japan kommen. Zuerst siedelten zwei Köpfe hinter dem Urvater heutiger KI-Anwendungen, Googles Deep Mind, ihr Startup Sakana AI in Japan an. Im vergangenen Jahr eröffnete dann Open AI sein erstes Auslandsbüro in Tokio, rund ein Jahr vor der deutschen Niederlassung.
Für den deutschen KI-Forscher Andreas Dengel, Direktor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), ist Japan im Ausland die erste Wahl als Labor für seine Projekte. Im Januar gab er in der japanischen Industriemetropole Osaka den Startschuss für ein auf fünf Jahre angelegtes KI-Projekt für medizinische Anwendungen. Der Kooperationspartner ist die Osaka Metropolitan University.
Er habe sich von den USA längst verabschiedet und sich auf Japan als Partner konzentriert, erklärte er in einem Interview im «Handelsblatt». «Dabei habe ich festgestellt, dass wir ähnliche Werte haben.» Er nennt Verlässlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, das Einhalten von Absprachen und vereinbarter Arbeitsteilung. Es seien Dinge, die er in den USA seit der Jahrtausendwende vermisse.
Auf den ersten Blick überrascht der Optimismus der Aussage. Bis jetzt hinkt Japan bei der Anwendung neuer generativer KI hinter den Pionieren wie Open AI, Alphabet, X und Anthropic her.
Aber vier Faktoren sprechen für Japan: Industriepolitik, Regulierung der KI, die Technologiekonzerne und die Grösse des Markts.
Langfristige Industriepolitik schafft Grundlagen für KI
Der deutsche KI-Forscher Dengel sieht Japan in der langfristigen Industriepolitik als ein Vorbild für Europa. Er hat Japan nicht nur als offener gegenüber neuen Technologien erlebt. Japan gehe auch systematisch und programmatisch vor, um in ausgewählten Bereichen international mitzuspielen.
Schon früh habe sich Japan Gedanken gemacht, wie das Land die Voraussetzungen für KI schaffen könne. Dengel betont eine gezielte Initiative zum Aufbau von KI-Datenzentren, bei denen auch an die Stromversorgung gedacht werde, um die grossen Datenmengen verarbeiten zu können.
Die Regierung unterstützt die Chip- und KI-Industrie mit mehr als 60 Milliarden Franken, Firmen investieren ihrerseits massiv. Zudem hat die Regierung im Februar in ihrer neuen Energiestrategie neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien auch die beschleunigte Wiederinbetriebnahme der derzeit abgeschalteten Atomkraftwerke beschlossen. So soll der Anteil des Atomstroms bis 2040 von derzeit rund 10 auf über 20 Prozent steigen.
KI-Regulierung zwischen Europa und USA
Japan gilt als dritter Weg zwischen amerikanischer Vollgasmentalität und europäischem Regulierungskorsett. Die Regeln sind weniger streng als in Europa, aber bei Verstössen sollen die Strafen weh tun. Wiederholungstätern droht in Japan ein Bussgeld in Höhe von 30 Prozent des Umsatzes.
Die Cyberexperten Charles Mok von der Stanford University und Athena Tong von der University of Tokyo bezeichneten Japan in einem Beitrag für das Magazin «The Diplomat» daher als «lehrreiche Fallstudie» dafür, wie demokratische Nationen technologischen Fortschritt und regulatorische Kontrolle in Einklang bringen könnten.
Japan hat Erfahrung mit angewandter KI
In Japan als ehemals grösstem Elektronik-, Chip- und Computerhersteller der Welt sowie Grossmacht bei Autos, Industrierobotern und Produktionsanlagen setzen viele Unternehmen bereits seit Jahrzehnten auf klassische KI wie maschinelles Lernen.
Japanische Elektronikkonzerne sind führend in der Gesichtserkennung, bei Autofokussystemen für Digitalkameras und in vielen Bereichen der Industrieautomatisierung.
Diese Stärke in vielen Bereichen der Wirtschaft soll nun beim eigentlichen grossen Sprung für die Maschinenintelligenz helfen: bei der Weiterentwicklung der generativen KI-Modelle zu sogenannten Agenten. Um die künstlichen Mitarbeiter wirklich nutzbar zu machen, müssen die Systeme mit spezialisierten Industrie- und Unternehmensdaten trainiert werden. Japan hat die zuhauf.
Die Software- und Computerkompetenz im Land hilft nun bei der Entwicklung der generativen KI. Der KI-Experte Yutaka Matsuo, der auch Vorsitzender des KI-Rats der Regierung und Verwaltungsratsmitglied bei Softbank ist, zählt ein Dutzend Sprachmodelle japanischer Unternehmen auf, die bereits im Einsatz sind oder kurz vor der Marktreife stehen.
Vor allem die vier grossen Telekommunikationskonzerne, darunter auch Mobilnetze von Softbank und dem japanischen Amazon-Rivalen Rakuten, haben eigene Modelle entwickelt, um unabhängiger von amerikanischen Anbietern zu werden. Ein Spin-off von Matsuos Labor, das Startup Elyza, ist dabei Entwicklungspartner des Softbank-Rivalen KDDI.
Japans KI-Markt hat Potenzial
Japan ist für viele globale Datenkonzerne nicht nur der zweitgrösste Markt. Die starke Rolle der Industrie für die Wirtschaft des Landes hat in Verbindung mit dem Rückstand bei KI-Anwendungen auch einen Nebeneffekt: ein enormes Wachstumspotenzial.
Nach Berechnungen von Matsuo hat die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft in Japan ein viermal so hohes Marktpotenzial wie in Deutschland, zwei Drittel von China und immerhin noch 37 Prozent der USA. Er sagt: Auch deshalb kämen so viele KI-Grössen aus den USA nach Japan.
Die KI-Expertin Yuko Harayama ist Leiterin des Tokyo Expert Support Center der Global Partnership on Artificial Intelligence, die von den führenden Industrienationen, der G-7, initiiert wurde. Sie mahnt, dass eine erfolgreiche Aufholjagd keineswegs garantiert sei. Anders als beim Aufstieg Japans zur Industrienation gebe es keine festen Ziele, an denen sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft orientieren könnten. Stattdessen sei Ausprobieren angesagt, was der japanischen Liebe zur detaillierten Planung widerspreche.
Harayama beobachtet in ihren Umfragen aber eine rasante Entwicklung von Lippenbekenntnissen hin zur tatsächlichen Integration von KI in Geschäftsprozesse: «Ein Indiz dafür ist, dass Unternehmen immer weniger offen über ihre KI-Pläne sprechen.»
Auch der derzeitige Rückstand gegenüber den USA und China sei nicht unveränderlich. Die Dinge entwickelten sich schnell. Ein Beispiel ist für sie das chinesische Startup Deepseek, das mit seinem effizienten KI-Modell kürzlich einen Kurssturz amerikanischer KI-Aktien ausgelöst hat.
Selbst Vorhersagen für drei oder vier Monate im Voraus seien schwierig, sagt Harayama. «Im Moment gibt es keine Garantie, dass man an der Spitze bleibt, wie die Newcomer aus China zeigen.» In Japan hofft man deshalb, dass in Zukunft mindestens einer der globalen KI-Stars aus dem eigenen Land kommt.