Ein Gerichtsurteil aus Bayern zeigt, warum Deutschland für Schweizer Kokaindealer ein Paradies ist. Doch nicht jeder findet im Paradies sein Glück.
Was innerhalb eines Jahres in einem Leben passieren kann, erklärt Marco M. klar und eloquent. Er schont sich nicht. Dabei sitzt er da im Landgericht Hof im Norden Bayerns in scheusslicher Knastkleidung und Fussfesseln. Er sei Mitglied der Geschäftsführung in einer Elektrofirma gewesen, habe zuletzt rund 10 000 Franken netto verdient und Grossbaustellen mit einem Budget von bis zu 500 000 Franken betreut. Dann die Scheidung. Frau weg, Halt weg. «Sie waren ein aufstrebender junger Mann, und dann machen Sie so etwas. Ihr Fall zeigt, was Drogensucht aus einem Leben machen kann», wird der vorsitzende Richter Dietmar Burger nach der Urteilsverkündung sagen.
Es klingt härter als die Strafe. Immer wieder hat dieser Prozess in der bayrischen Stadt Hof Phasen von philosophischen Erörterungen, die einen Einblick geben in drei Leben aus dem Schweizer Hinterland, wo Kokain offenbar eine grosse Rolle spielt.
Angeklagte schliessen einen Deal ab
Nun endet dieser körperliche Raubbau vorerst. Das Landgericht Hof verurteilt drei Männer jeweils zu drei Jahren Haft wegen bandenmässigen Handels mit Betäubungsmitteln. Ein «günstiges Ende für Sie», sagt der Richter. Wer mit einem Kilogramm Kokain in Bayern erwischt wird, darf sich eigentlich auf 5 bis 15 Jahre Haft einstellen. Die Staatsanwältin hatte zweimal drei Jahre und sechs Monate und einmal drei Jahre und drei Monate beantragt.
Gericht, Verteidiger und Staatsanwaltschaft hatten sich nach einem Rechtsgespräch zu Beginn des Prozesses auf einen Strafrahmen zwischen drei Jahren und drei Jahren und neun Monaten geeinigt. Das ist möglich, weil die Männer – alle in den Zwanzigern – seit ihrem Aufgriff kooperativ sind und Namen und Orte für weitere Ermittlungsansätze in Berlin liefern, was für ihr weiteres Leben nicht ungefährlich sein kann.
Zum Verhängnis wird den Männern auf ihrer Reise durch Deutschland eine Pause an der A 9. Zivilfahnder der Hofer Verkehrspolizei sichten die drei und deren neuwertige Mercedes S-Klasse 500 am Brückenrasthaus an der Landesgrenze zum Bundesland Thüringen. Marco S. steht mit Zigarette neben dem Wagen. Paul S. sitzt am Steuer, ist aber nicht der Fahrer. Christian H. wartet auf der Rückbank.
Nach einer routinemässigen Personenkontrolle durchsuchen die Polizisten den Wagen, finden Verschlusskapseln. Es handelt sich um sogenannte Eppendorf-Gefässe, die zur Aufbewahrung für kleine Mengen Kokain genutzt werden, zum Beispiel, wenn man zu einer Party geht und konsumieren will. Marco M. wird «spürbar nervös», sagt einer der Ermittler. In einem Fach in der Durchreiche zum Kofferraum finden die Fahnder schliesslich ein Paket mit der Aufschrift King Kong. Darin feinstes Koks mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 60 Prozent.
Daraus hätte sich nach Erfahrungen von Ermittlern mindestens das Doppelte machen lassen, aber die drei Angeklagten und ihre Verteidiger fahren eine clevere Strategie. Sie stellen ihre Mandanten als hochgradig süchtig dar. «Sie sind Suchtdealer», wie einer der Verteidiger sagt. Täglich würden ihre Mandanten zwei Gramm selbst brauchen, an den Wochenenden bis zu zehn, vieles von dem Stoff hätten sie selbst konsumieren wollen. Der Verkauf sei nachrangig gewesen. Wenn überhaupt, dann um sich den eigenen Kokainkonsum aus Verkäufen zu finanzieren.
Kokainhochburg Schweiz
Dass die drei in der St. Galler Szene nicht unbekannt sind, zeigt ein Organigramm, das einer der Angeklagten vorlegt, auf dem um die dreissig Namen stehen und Lokale, von denen aus das Kokain zu weiteren Abnehmern kommt. Paul S. behauptet, der Läufer von Marco M. gewesen zu sein. Es klingt wie das Spiel zwischen Regisseur und Sechser im Fussball. Aber das hier ist kein Spiel.
«Viele bei uns nehmen etwas», sagt Paul S., als wäre Kokain der normale tägliche Begleiter. In der Schweiz ist das Mitführen von maximal zwei Gramm der Substanz legal, der Konsum allerdings strafbar. Das sorgt immer wieder für Diskussionen. In Deutschland ist die Schweiz deshalb nicht nur wegen des Echtschnees auf den Bergen berühmt. Wie Abwasserdaten der European Union Drugs Agency zeigen, gehören Basel, Bern und Genf zu den Spitzenreitern. Zürich liegt noch vor Hamburg, wo der Stoff häufig per Übersee-Container aus Südamerika ankommt.
Es ist der 5. November 2024, als sich Marco M., der regional bekannte DJ Christian H. und Paul S., der vor Jahren mit seinen Eltern von Magdeburg in die Schweiz gezogen war, wieder einmal in ihrer Stammbar im Kanton St. Gallen treffen. Hier sind sie oft, jedenfalls immer donnerstags und samstags, erzählen sie.
M. und H. waren einmal Arbeitskollegen. S. ist nicht mehr als ein Bekannter der beiden. Alle drei verbindet die Sucht. Doch irgendwann geht ihnen das Geld aus. Günstigerer Stoff muss her. Die drei Männer fassen einen Plan in jener Nacht. Sie wollen ein Kilogramm Kokain in Berlin kaufen. Am anderen Tag soll es losgehen. Als sie im Gericht darüber sprechen, wirkt es wie das Werk von Wahnsinnigen.
Die Angeklagten räumen die Vorwürfe der Hofer Kriminalpolizei ein. Gemäss diesen ist Paul S. der Organisator. Er schreibt über die Kommunikationsplattform Discord, die vor allem Gamer nutzen, einen Mann in Berlin an, der Kontakt zu Dealern hat. Im Chat schreibt Paul S., dass es weitere Fahrten geben könnte, wenn bei der Premiere alles gut gehe. Offenbar erhoffen sich die drei auch ein Geschäft. In ihrer Heimat kostet das Gramm Strassen-Kokain laut Ermittlern rund 120 Franken, in Deutschland abseits der Metropolen etwa 70 Euro. In Berlin sind es ab einer gewissen Menge nur noch 40 Euro.
Beschaffungsfahrt in der Mercedes S-Klasse
M., der mit dem guten Verdienst, mietet am nächsten Tag eine Mercedes S-Klasse 500. Bis nach Berlin sind es fast 800 Kilometer. Als sie dort ankommen, ist der Stoff noch nicht da. Offenbar ist eine derartige Menge in so kurzer Zeit auch für die Grossstadtdealer eine Herausforderung. Sie vertrösten die Schweizer auf den nächsten Tag. Das Trio vertreibt sich die Zeit in Berlin, Paul S. sei an Silvester schon öfter hier gewesen, erzählt er. Abends geht es in die Diskothek Matrix. Sie schlafen im Auto.
Am 7. November, nur zwei Tage nach Tatplan, übergibt Marco M. in der Nähe des Schlesischen Tors im Stadtteil Kreuzberg 23 000 Euro an einen Dealer, der zur albanischen Mafia gehören soll. Die Summe stammt aus dem Verkauf seines Lamborghini, den er wegen Geldnot verkaufen musste, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte. Die Trennung habe ihm zugesetzt, er habe seine Emotionen betäuben wollen, sagt Marco M., der die gesamte Summe an diesem Tag nicht dabei hat, weil der Automat wegen der Kartenlimite nicht mehr auswirft.
Die restlichen 2000 Euro überweist S. elektronisch, was bei solchen Geschäften nie zu empfehlen ist, denn so haben Ermittler elektronische Daten, können über die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) den Wohnort des Dealers ausfindig machen und weitere Hintermänner ermitteln. Mit der weiteren Bearbeitung des Falls beschäftigt sich derzeit die Berliner Justiz, erzählt die Hofer Staatsanwältin.
Die Bestellung ist nur einen Klick entfernt
Auch in der Schweiz wird die Substanz zunehmend zum Problem. «Früher mussten die Leute zu zwielichtigen Dealern gehen, heute lässt es sich kontaktfrei über Social Media oder Messenger-Dienste bestellen und man bekommt es in kürzester Zeit geliefert», sagte der Pharmakopsychologe Boris Quednow von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich bei Radio SRF.
Das Internet öffnet die Welt. Und manchmal den Abgrund. Marco M., der durch seine Scheidung aus dem Tritt kam, sagt, er wolle sich wieder einmal verlieben, noch einmal neu beginnen. «Und warum soll ich gerade Ihnen das glauben?», fragt Vorsitzender Richter Dietmar Burger, schliesslich würden das seit Jahrzehnten alle sagen, die vor ihm sitzen. Er habe aber in diesem Fall «wirklich Hoffnung, Sie sind jetzt ganz unten, es liegt an Ihnen, ob es wieder aufwärts geht».