Bilder Heiko Müller / Bundeswehr
Vor vier Jahren nutzte Russland eine grosse Übung, um anschliessend den Krieg gegen die Ukraine zu beginnen. In diesem Jahr findet das «Zapad»-Manöver mutmasslich in der Nähe Litauens statt. Deutsche Soldaten üben dort, wie sie auf einen Angriff reagieren würden.
Tommy, der Scharfschütze, läuft am Mittwoch der vergangenen Woche durch das Dickicht eines Waldes in der Nähe von Rukla. Die Bundeswehr hat in diesem Ort im Süden Litauens gut eintausend Soldaten stationiert. Äste schlagen ins Gesicht, der Boden ist von Totholz übersät, jeder Schritt eine potenzielle Stolperfalle.
Tommy stapft durch das Gebiet, als handele es sich um seine Wohnstube. Dabei ist er mit seinen Soldaten erst vor ein paar Stunden hier angekommen, mitten in der Nacht, im Stockdunkeln. Vorn an der Waldkante haben sie ihre Beobachtungsstellung aufgebaut.
Von der Stelle aus, an der Tommy jetzt stehen bleibt, ist diese Stellung nicht zu sehen. Nur Wald und ein undeutlicher Weg, an dessen Ende weiter oben, kaum sichtbar, ein Band zwischen zwei Bäume gespannt ist. Da hänge eine Nebelgranate dran, sagt Tommy. «Wenn der Gegner das Band berührt, explodiert sie, und wir wissen, dass er kommt.»
Scharfschützen führen nur selten einen Feuerkampf. Wenn sie aufzufliegen drohen, versuchen sie sich davonzustehlen. Oder sie harren in ihrem Versteck aus und hoffen, unentdeckt zu bleiben. Sie sind eine unheimliche Waffe, weil sie aus dem Nichts töten. Bei Gefangenschaft haben sie keine Gnade zu erwarten. Im Zweiten Weltkrieg wurden sie häufig sofort erschossen.
Plötzlich rauscht Tommys Funkgerät. Er hört kurz zu, erwidert ein paar Worte und sagt dann, seine Leute hätten einen Lastwagen mit ein paar Soldaten aufgeklärt. «Es geht los.»
Unruhe im Baltikum
Was er meint, das ist der Angriff eines feindlichen Bataillons auf ein Flugfeld mit Schützenpanzern vom Typ BMP. Das sind Waffen, mit denen russische und weissrussische Truppen ausgerüstet sind. Sie stehen demnächst möglicherweise nur einige Kilometer hinter der litauischen Grenze auf weissrussischem Gebiet, wo sie sich auf ein Manöver im Herbst vorbereiten. Das sorgt im Baltikum seit einiger Zeit für Unruhe.
Die russisch-weissrussische September-Übung «Zapad 2025», so ist in Litauen zu hören, soll einen Vorstoss auf die Suwalki-Lücke simulieren. Das ist die Engstelle zwischen Weissrussland und der russischen Exklave Kaliningrad, ein neuralgischer Punkt auf polnischem und litauischem Territorium. Dort könnte man das Baltikum auf dem Landweg vom Nato-Nachschub abschneiden. Ein solcher Angriff wäre ein Überfall auf das Gebiet der westlichen Militärallianz. Auch bei der Bundeswehr ist man in Habachtstellung. Sie ist seit 2017 in Litauen, um das Land im Fall eines Angriffs zu verteidigen.
Am kommenden Donnerstag kommt der neue Bundeskanzler Friedrich Merz erstmals nach Litauen. Dann wird mit einem grossen öffentlichen Appell die Kampfbrigade in Dienst gestellt, die Deutschland dauerhaft in Litauen stationieren will. Merz soll eine Rede halten und auch deutsche Soldaten treffen.
Jemand wie Tommy könnte ihm dann erzählen, was Deutschland seinen Soldaten an der Nato-Ostflanke abverlangt. Es ist viel – und könnte bald noch viel mehr werden. Jüngst meinte das renommierte Londoner International Institut for Strategic Studies warnend, Russland könnte bereits 2027 in der Lage sein, die Nato-Verbündeten, insbesondere die baltischen Staaten, militärisch zu attackieren.
Tommy und seine Scharfschützen sind an jenem regnerischen Mittwoch die Augen der deutschen Kampfgruppe in Rukla. Sie liegen sechs Kilometer vor den Kampf- und Schützenpanzern, dem Herzen der Battlegroup, am Waldrand und sollen sofort melden, wenn sie den Feind sichten. Nichts ist für eine Truppe in Verteidigung schlimmer, als vom Gegner überrascht zu werden.
Scharfschützen schleichen sich oft tagelang an ihr Ziel an, verschmelzen mit der Landschaft, liegen Tag und Nacht in ihrem Versteck und töten mitunter aus mehr als tausend Meter Entfernung. Ehe der Schuss zu hören ist, ist das Ziel getroffen. An diesem Tag aber sollen sie nur beobachten, melden und die Position des Gegners durchgeben. Den Rest erledigt die simulierte Artillerie.
Das Scharfschützen-Versteck
«Ich komme vor», sagt Tommy in sein Funkgerät und stapft wieder voraus. Nach ein paar Minuten hockt er sich hin und blickt durch das Gestrüpp. Man muss schon genau hinsehen, um die drei Soldaten zu erkennen, die dort unter einer Plane in Tarnfarben sitzen, die zwischen zwei Baumstämmen gespannt ist. Man erkennt sie kaum.
Vor den Soldaten steht ein Dreibein, auf dem ein «Spotter 60» angebracht ist. Das ist eine Optik mit bis zu sechzigfacher Vergrösserung. Einer der Soldaten schaut durch das Okular. Zwanzig Minuten lang könne man das konzentriert machen, sagt Tommy, dann würden die Augen müde. Deshalb sind die Scharfschützen zu dritt in der Stellung. Nach vier Stunden werden sie abgelöst.
Der Angriff der BMP-Schützenpanzer lässt auf sich warten. Tommy und seine Scharfschützen werden noch die ganze Nacht und den nächsten Tag in ihrer Stellung hocken. Es regnet in Strömen, am Abend geht die Temperatur gegen den Gefrierpunkt. Tommy sagt, so einen Job wollten kaum noch junge Menschen machen. Sie fänden immer schwerer geeignete Leute.
Weiter hinten, in der Nähe des Flugfeldes, steht Steven M. vor einem Schützenpanzer des Typs Puma und blickt auf, als das Geräusch eines Helikopters zu hören ist. Schon ist die Maschine zwischen den Bäumen nah über den Wipfeln zu sehen, ein Kampfhelikopter, ein zweiter folgt. Er brüllt in den Panzer hinunter, sie sollten das sofort an den Gefechtsstand melden, da ist aus dem Wald weiter hinten bereits Abwehrfeuer zu hören.
Trainieren für den grossen Krieg
Steven M. ist der Chef der ersten Kompanie der deutschen Battlegroup in Rukla. Der 33-Jährige gehört zu einer neuen Generation von Heeresoffizieren, einer Generation, für die nicht mehr der Krieg in Afghanistan prägend ist, sondern die Vorbereitung auf eine Konfrontation mit einem ebenbürtigen Gegner wie Russland. Der Chef und die Soldaten seiner Kompanie trainieren wieder für den grossen Krieg.
Steven M. ist mit seiner Kompanie seit zwei Tagen hier draussen. Gestern haben sie den Angriff eines feindlichen Bataillons zerschlagen, wie er sagt. Seitdem stehen sie in ihren Positionen am Flugfeld und warten auf die Ankunft amerikanischer Fallschirmjäger, die hier landen sollen. An seiner Schutzweste stecken drei Magazine für seine Waffe, ein G-36. Er trägt Helm, Handschuhe, Knieschoner, Uniform, die volle staubgepuderte Kampfmontur eines deutschen Panzergrenadiers.
In einem Umkreis von mehreren hundert Metern hocken seine Soldaten im Waldboden. Sie haben Löcher gegraben und harren aus. Andere haben es besser. Sie sitzen in ihren Panzern, Leopard 2 und Puma. Da ist es zumindest trocken, sicher aber auch nicht unbedingt. Drohnen spielen in dem Manöver eine wichtige Rolle, wenn auch nicht die, die ihnen in Anbetracht der Realität in der Ukraine derzeit zugeschrieben wird. Drohnen, sagt Steven M., sind im Bodenkampf als neues Spektrum hinzugekommen. «Sonst aber zeigt die Ukraine, dass sich nichts wesentlich geändert hat.»
Der «weltbeste Schützenpanzer»
Das hört sich etwas einfach an. Landauf, landab wird in Streitkräften der Nato überlegt, wie auf die Bedrohung durch kleine, hoch bewegliche und oft mit Sprengsätzen ausgerüstete Drohnen zu reagieren sei. Die meisten Verluste an Panzern, Fahrzeugen und Personal entstehen seit längerem durch den Einsatz von Drohnen. Ja, auch sie hätten während der Übung mit Drohnen zu tun, sagt der Chef. Aber entweder man führe den Feuerkampf gegen sie oder weiche aus. Und wenn sie getroffen würden, dann, meint er und klopft auf den Stahl seines Pumas, «haben wir hier die Panzerung des besten Schützenpanzers der Welt». Sie könne einiges «wegschlucken».
Steven M. gehört zum Panzergrenadierbataillon in Neustadt am Rübenberge. Dieses ist in Niedersachsen und gehört zu den Verbänden der Bundeswehr, die als erste mit dem neuen Schützenpanzer Puma ausgerüstet wurden. Erstmals befindet sich dieses Waffensystem nun im Einsatz im Baltikum. Man muss den Chef gar nicht lange fragen, er spricht von selbst über seine Erfahrungen mit dem Puma. Kriegstauglich sei er, das zeige sich hier. Zuverlässig, bei 22 Fahrzeugen kein einziger Ausfall, und das, seitdem sie da seien, also seit vier Monaten. Er sei noch auf dem Vorgänger, dem Marder, ausgebildet worden. Um nichts wolle er wieder dahin zurück, sagt er.
Es war kurz vor Weihnachten 2022, als der Puma einmal mehr massiv in die Kritik geraten war. Bei einer Schiessausbildung waren nach und nach 18 Fahrzeuge ausgefallen. Die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht entschied, statt des Pumas den alten Marder in die schnelle Eingreiftruppe der Nato zu schicken. Zweieinhalb Jahre später aber sind die Soldaten voll des Lobes über den Panzer.
Im Innenraum des Pumas rauscht das Funkgerät. «An alle! Kampfhubschrauber vernichtet durch Medusa!» Der Funkspruch ist auch draussen gut zu vernehmen. Der Chef nickt zufrieden. Medusa ist der Tarnname der zweiten Kampfkompanie.
Am Vortag um diese Zeit hätte der Spruch nicht eingehen können. Die meiste Zeit herrschte da Funkstille. Russische Aufklärungsflugzeuge zogen entlang der Grenze zu Litauen ihre Bahnen. Sie hören die Telefon- und Funkgespräche der Nato und der Litauer ab. In solchen Fällen bekommen die deutschen Soldaten eine Warnung auf ihre Handys. Dann dürfen sie weder Messengerdienste noch Telefon und Funkgeräte benutzen. Ist das schon die Vorstufe eines Konflikts mit Russland?
Putin? «Man darf ihm kein einziges Wort glauben»
In Litauen würden sie die Frage anders beantworten als in Berlin oder Brüssel. Im Verteidigungsministerium in Vilnius, der litauischen Hauptstadt, sitzt der stellvertretende Minister Tomas Godliauskas in einem Besprechungszimmer und spricht über das russische Grossmanöver «Zapad 2025». Akkurat in Anzug, Hemd und Krawatte gekleidet, erklärt er, dass sie, die Litauer, zwar keine Angst vor einem Angriff im Herbst hätten. Aber man dürfe dem russischen Präsidenten Wladimir Putin «kein einziges Wort glauben», sagt Godliauskas. Russland wolle keinen Frieden mit der Ukraine und auch keinen Frieden mit der Nato.
Deshalb werde man die Vorbereitungen der Russen und Weissrussen auf die Übung im September sehr genau beobachten. «Wir sind aufmerksam und werden hinsehen», sagt Godliauskas. Doch ohne die Nato und vor allem die Amerikaner würde das schwierig. Litauen hat keine Satelliten und Flugzeuge, die einen militärischen Aufmarsch auf weissrussischem Gebiet aus der Ferne feststellen könnten. In Brüssel, am Ort des Hauptquartiers der Allianz, gibt man sich seit Wochen allerdings eher entspannt. Es gebe keine Anzeichen, dass «Zapad 2025» eine Bedrohung für die Nato darstellen könnte, heisst es.
Schon vor einiger Zeit haben Russland und Weissrussland angezeigt, dass sie im Herbst beabsichtigen, mit 13 000 Soldaten ein Manöver abzuhalten. In Litauen befürchtet man, dass es entlang oder in der Nähe seiner Grenze stattfindet. Der Name «Suwalki-Lücke» fällt immer wieder, aber nicht offiziell. Auch Godliauskas will den Begriff nicht in den Mund nehmen.
Er erinnert stattdessen an den Herbst 2021, als das damalige «Zapad»-Manöver an der Grenze zur Ukraine stattfand und die russischen Truppen anschliessend ihre Invasion im Nachbarland starteten. Noch einmal die Frage an den stellvertretenden Verteidigungsminister: Werden Sie Ihre Truppen im September in Alarmbereitschaft versetzen? Die Antwort fällt eher ausweichend aus. «Wir werden gemeinsam mit unseren Partnern in der Zeit eigene Übungen abhalten.»
Kein neues Kriegsbild
Hauptmann Steven M., der Chef der ersten deutschen Kampfkompanie in Rukla, wird zu diesem Zeitpunkt schon zurück in Deutschland sein. Die Truppen rotieren alle sechs Monate. Gerade aber steht er noch an seinem Puma, aus dem die Stimme eines Soldaten kommt. Er müsse mal pinkeln, sagt er und hört sich dabei so an, als ob es ziemlich pressiere. «Mensch, die Presse ist hier», sagt der Chef und lacht. Der Soldat kommt hervor und schaut aus, als ob es ihm etwas peinlich wäre.
Dann spricht der Chef über den Krieg, auf den er die Soldaten seiner Kompanie vorbereiten müsse. Der massive Einsatz von Minen, von Artillerie, Kampf- und Schützenpanzern und von Infanterie, wie es heute in der Ukraine zu sehen sei, das alles sei kein neues Kriegsbild. Es existiere seit langem. Die Bundeswehr kenne es nur nicht mehr, weil sie drei Jahrzehnte lang in anderen Szenarien eingesetzt worden sei.
Doch ein brutaler, ein so blutiger, erbarmungsloser, verlustreicher Krieg wie in der Ukraine ist trotzdem etwas anderes als lediglich «kein neues Kriegsbild». Auf Tausenden Videos kann man sehen, wie Panzer explodieren, Menschen verbrennen, Soldaten zerfetzt werden, sich selber töten, über ihnen eine Drohne, bereit, sich auf sie zu stürzen. Das Grauen des Krieges, kaum ein deutscher Soldat kennt es aus eigenem Erleben. Aber es kann passieren, dass sie es erfahren. Sie sollen Litauen gegen einen möglichen Angriff Russlands verteidigen. Wie bereitet man Frauen und Männer aus einer friedensverwöhnten Gesellschaft auf so etwas vor?
Steven M. zögert keine Sekunde mit der Antwort. Er setze, sagt er, sooft es gehe, in der Ausbildung Videos aus der Ukraine ein. Es gebe Szenen, die von der Bundeswehr aufbereitet und analysiert seien, und solche, die tausendfach über Social Media abrufbar seien. Es gehe darum, den Soldaten die Fehler aufzuzeigen, die die russischen oder ukrainischen Soldaten machten, und welche Folgen sie haben könnten.
Was der Chef in seiner Erwiderung ausspart, das sind Tod und Verwundung. Es ist das, was die Soldaten das «scharfe Ende des Berufs» nennen. Man muss ihn direkt fragen, was diese Bilder mit den Männern und Frauen machten. Seine Antwort: Das schärfe ihre Sinne.