Die Staatsverschuldung ist derzeit weltweit hoch. Beschreiben lässt sich die Schuldendynamik mit einer einfachen Formel. Sie zeigt auch auf, wie die Problematik gelöst werden könnte. Leider scheinen konstruktive Ansätze derzeit aber wenig gefragt zu sein.
Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn ich Sie nach der wichtigsten Formel der Welt fragen würde? E = m*c^2 von Einstein? Newtons F = m*a? Pythagoras, Euler, Fibonacci, Fourier, Schrödinger?
Alles valable Kandidaten, wenn Sie sich für Naturwissenschaften interessieren, aber da Sie The Market lesen, sind Sie wohl eher finanzaffin, dann hätte ich eine andere, mindestens ebenso grossartige Formel:
Δdt = -pbt + (it – gt) * dt-1
«Every equation cuts your book sales in half»
Stephen Hawking, britischer Physiker und Kosmologe (1942–2018)
Die Formel besagt, dass die Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP) steigt, wenn der Primärhaushalt des Landes im Defizit ist und wenn die Schuldzinsen des Staates höher sind als das nominale Wirtschaftswachstum, potenziert mit der bisherigen Verschuldung. Das heisst aber auch, dass die Verschuldung pro Einheit BIP fallen kann, etwa bei Überschüssen in der Primärbilanz oder hohem Wirtschaftswachstum.
Δ = Delta = Jahresveränderung
d = Schulden/BIP
pb = Primary Balance = Primärbilanz: Staatseinnahmen abzüglich Staatsausgaben vor Zinsendienst
i = Durchschnittlicher Schuldzins der Staatsschulden
g = Nominales Wirtschaftswachstum
t = Dieses Jahr
t-1 = Vorjahr
Oder einfacher: Änderung in der Staatsverschuldung = Fikalpolitik + Wachstumspolitik + Sünden der Vergangenheit
Diese Formel zur Veränderung der Staatsverschuldung hat, was allen berühmten Formeln der Welt eigen ist: Sie ist schön, intelligent arrangiert, sie ist kurz und simpel und anders als die naturwissenschaftlichen Formeln trivial in Herleitung und Interpretation.
Sie ist deshalb schön, weil sie die Antworten zu allen wesentlichen, grossen Fragen der Wirtschaftsgegenwart vereint:
Fiskalpolitik: Frankreich, USA, Schuldenbremse, Klimapolitik, Zölle
Δdt = -pbt + (it – gt) * dt-1
Die Budgetthematik dominiert den medialen Diskurs der Schuldenproblematik. Kein Wunder, fährt doch eine Reihe von Staaten seit längerem Fiskaldefizite in einer Höhe, die früher, abgesehen von Kriegszeiten, als undenkbar erachtet worden wäre. Und natürlich: Staaten, die langfristig mehr ausgeben als einnehmen, handeln sich höhere Schulden ein. Interessanterweise aber ist dieser Term – der erste in der Formel – der unwichtigste. Und das kommt so:
Wachstumspolitik: Abenomics, Supply Side Economics, Konjunkturpakete
Δdt = -pbt + (it – gt) * dt-1
Ein Land kann noch so grosse Primärdefizite aufweisen, so lange das nominale Wirtschaftswachstum – das kursive und gefettete «g» in obiger Gleichung – über der Durchschnittsverzinsung seiner bestehenden Schulden liegt. Es erstaunt nicht, dass die Politiker von hoch verschuldeten Staaten in jedem Fall eine «Entschuldung» über höheres Wachstum einer Sanierung der Primärbilanz (höhere Steuern oder tieferen Ausgaben) vorziehen.
Sünden der Vergangenheit
Δdt = -pbt + (it – gt) * dt-1
Das Pikante hier: Dieser Effekt ist umso grösser, je höher die bestehende Verschuldung ist. Das bedeutet aber auch, dass bei Ländern mit hoher bisheriger Verschuldung eine Abflachung des Wachstums unter die Höhe der Zinsen schnell eine Katastrophe auslösen kann, eine Explosion der Verschuldung. Die Politiker, die der Problemlösung mittels Wachstumsimpuls (speziell bei hoher Verschuldung) die Rede führen, haben zwar recht, befinden sich aber auf glitschigem Terrain, wenn ihre Wachstumsimpulse verpuffen, weil sie eher dem Konsum dienen und nicht der Investition.
Es ist also durchaus möglich, dass ein Staat sich wie Baron Münchhausen selber am Schopf aus dem Sumpf ziehen kann. Aber der Bezug auf den grössten Lügner der Weltliteratur ist berechtigt angesichts von Regierungen, die ihre Klientelpolitik heute mit «Sondervermögen» verbrämen oder Merkantilismus mit «Inflation Reduction» verschleiern.
Schuldenlastreduktion durch Inflationierung
Haben Sie sich schon gefragt, warum die meisten Notenbanken sich ein Inflationsziel von 2% geben und panisch reagieren, wenn die realisierte Inflation dieses Ziel unterschiesst? Immerhin bedeutet eine Inflation von jährlich 2% einen kumulierten Kaufkraftverlust von einem Drittel über zwanzig Jahre. Versuchen Sie, diesen Verlust mit Frankenobligationen zu kompensieren – viel Glück.
Für den Staat stimmt die Rechnung, er entschuldet sich real, und er geht dem Risiko aus dem Weg, das ihm das Genick brechen kann: einer Deflation. Sie bedeutet tieferes Nominalwachstum, weniger Staatseinnahmen, höheres reales Gewicht der Schulden, und sie ist ein Rezept für den Bankrott.
Δdt = -pbt + (it – gt) * dt-1
Mit einer Inflationierung kann der Staat das (nominale!) Wachstum erhöhen, damit die Staatseinnahmen steigern und die Verschuldung reduzieren, wenn die Schuldzinsen nicht anziehen. Da aber der Durchschnittszins der Gesamtschulden von der Höhe der alten Schulden mit fixierten Zinsen dominiert wird, sollte dies im Normalfall kein Problem darstellen.
Das Risiko besteht in erster Linie darin, dass die Währung bei einem Übermass an Inflation einknickt. Dieser Aspekt ist besonders wichtig bei Hartwährungsschulden von Emerging-Markets-Ländern, aber auch für die Hartwährungsländer selbst ist die Strategie kein Selbstläufer, denn schwache Währungen importieren Inflation, vielleicht mehr als gewollt.
Finanzielle Repression: Zero Interest Rate Policy (ZIRP), Yield Curve Control, Unabhängigkeit der Institutionen, Blasen, Crashs
Der wohl einzig gangbare Weg des Staatschuldenmanagements für die kommenden Jahrzehnte ist zutiefst asozial, denn er wird auf dem Buckel von Leuten begangen, die sich in der Regel nicht beschweren: den Sparern. Schauen wir wieder auf die Formel:
Δdt = -pbt + (it – gt) * dt-1
Finanzielle Repression bedeutet dauerhaft zu tiefe Zinsen. Effekt eins: tiefe durchschnittliche Verzinsung der Schulden. Effekt zwei: höheres (von der Zukunft geborgtes) Wachstum und damit ein Double Whammy in der Verschuldungsformel. Tönt smart, ist es aber nicht. Finanzielle Repression erhöht die Tail-Risiken und sorgt regelmässig für Ressourcenverschwendung, Fehlbewertungen, Blasen, Crashs und teure Trümmerbeseitigung. Warum ist es trotzdem der einzig gangbare Weg? Fragen Sie mal einen (gewählten) Politiker nach den Alternativen.
Mit der Frage der finanziellen Repression verbunden ist der Topos der Unabhängigkeit der Notenbanken. So wie die Notenbanken heute agieren, sind sie wohl nur noch dem Namen nach unabhängig.
Fallendes Potenzialwachstum: Demografie, Produktivität, KI, Japan, China und wir alle bald auch
Δdt = -pbt + (it – gt) * dt-1
Fallendes Potenzialwachstum ist der absolute Killer von Staatsfinanzen. Es zerstört das «g» in der Gleichung, potenziert um die hohen bestehenden Schulden, es reduziert die Staatseinnahmen und wirkt wieder als doppelter Hammer auf die Staatsverschuldung. Die zwei wesentlichen Treiber des Potenzialwachstums sind Demografie und Produktivitätsfortschritt. Wir tun im Westen – und im Osten – alles, wirklich alles, um uns hier die Grube zu schaufeln. Das gilt auch für die Schweiz, wie dieser kürzlich in der NZZ publizierte, grossartige Artikel von Christina Neuhaus zeigt.
Neben der (gottgegebenen?) zu tiefen Fertilität schleift insbesondere Europa aktiv die Basis des Wachstumspotenzials. Mit einem negativ konnotierten Begriff der Arbeit, einer steigenden Staatsquote, einer wuchernden Bürokratie, absurden Ansprüchen an die Work-Life-Balance, Teilzeitarbeit und Bullshitjobs in Verwaltung, Betrieben und bei Prüfern (Taxonomie, Lieferketten etc.) werden dringend benötigte Produktivitätsfortschritte kompromittiert.
Hemmungslose Notenbanken: Der Griff in den Giftschrank mit Negativzinsen, Quantitative Easing, Helikoptergeld, Modern Monetary Theory, Yellen-Tweaks
Δdt = -pbt + (it – gt) * dt-1
In Japan hat die Notenbank alle Staatsanleihen, die nicht niet- und nagelfest sind, am Markt aufgekauft. Etwaige Couponzahlungen werden also der Notenbank gutgeschrieben und fliessen sogleich wieder zurück zum Staat. Faktisch verschwindet somit das «i» in der Formel, und der Staat kann sich darauf konzentrieren, ein positives «g» zu erzielen. Schwer genug in Japan, mit dem miesesten Demografietrend der Erde.
Tönt doch wie ein Patentrezept für uns? Man könnte doch gleich die so «verstaatlichten» Schulden als wertlos erklären und streichen? Abgesehen von juristischen Problemen: Was würde der Finanzmarkt zu so einem Manöver sagen? Man weiss es nicht. Es verbleibt das vielleicht monumentale Tail-Risiko einer kompletten Vertrauenskrise. Keine gute Idee also.
Dann doch eher die mildere Variante des Quantitative Easing? Das Problem hier: Die wichtigen Notenbankbilanzen sind bereits übervoll mit Anleihen des eigenen Landes, es muss dringend Raum geschaffen werden für die nächste Krise.
Also eher Tricksereien wie kurzfristige Finanzierung von langfristigen Schulden, wie es Finanzministerin Janet Yellen letztes Jahr betrieben hat? Geht dies schief, wird sie wohl nicht als Role Model in Erinnerung bleiben, sondern als Trümmerfrau.
Ordoliberale Wirtschaftsreformen:
Δdt = -pbt + (it – gt) * dt-1
Nach all diesen lebensnahen Punkten doch noch eine eher utopisch klingende Alternative des Schuldenmanagements: Stärkung des Marktes, Erhöhung der Produktivität, Ausgabenkürzungen, Steuersenkungen, Abbau des Staates? Das Pendel schwingt leider eher in die andere Richtung.
P.S. 1: Eine der berühmtesten Studien der Wirtschaftswissenschaften (Reinhart, Rogoff 2010) hat sich mit der Thematik beschäftigt, ab welchem Schuldenniveau das Wachstum belastet wird. Sie kam auf einen Wert von 90% und wurde von der Realität überholt. Und wenn Sie bis hierhin gelesen haben, dann dämmert es Ihnen wohl wie mir, dass jedes Land gesondert betrachtet werden muss.
P.S. 2: Zum Abschluss eine kleine Denkaufgabe: Wie hat es Portugal geschafft, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen? Was hat Frankreich falsch gemacht?
Jürg Lutz
Jürg Lutz ist Anleihenspezialist beim Schweizer Vermögensverwalter PK Assets, der auf die Anlage von Pensionskassengeldern spezialisiert ist. Er bezeichnet sich selbst als alten Hasen im Bondmarkt, was angesichts seiner dreissigjährigen Erfahrung in der Verwaltung von Anleihenportfolios nicht ganz abwegig ist. Vor geraumer Zeit hat er – gemäss eigenen Worten – nach einem dreijährigen Martyrium den CFA-Charterholder erworben. Der Bündner ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er ist beseelt von der Vorstellung, bis zu seinem Ableben die Via Spluga, die entlang des alten Säumerpfades von Thusis ins italienische Chiavenna führt, mindestens hundert Mal zu wandern. Viel fehlt ihm bis zu diesem Ziel nicht mehr.