Nordkorea ist klein und arm, aber militärisch eine Macht. Eine Übersicht.
Erst Waffenlieferungen, dann Soldaten – Nordkorea ist in den Ukraine-Krieg eingestiegen. Die Schätzungen über die Zahl der entsandten Kämpfer gehen auseinander, nicht aber die Einschätzung im Westen. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin sprach von einem «sehr, sehr ernsten Problem», der Nato-Generalsekretär Mark Rutte von einer «bedeutenden Eskalation».
1500 Mitglieder nordkoreanischer Spezialeinheiten sollen sich bereits in Frontnähe befinden. Nach Angaben der USA halten sich mindestens 3000 Nordkoreaner im Osten Russlands auf. 12 000 Soldaten wolle Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un insgesamt nach Russland schicken, sagt der südkoreanische Geheimdienst. Doch das könnte erst der Anfang sein.
Ian Bremmer, Gründer der amerikanischen Sicherheitsberatungsfirma Eurasia Group, mahnt in Tokio in kleiner Runde: «Wer weiss, wie viele Truppen sie schicken werden?» Dies wäre «ein furchtbar gefährlicher Schritt», sagt Bremmer. «Und es gibt nicht viel, was die Amerikaner dagegen tun können.» Doch wie gefährlich ist Nordkoreas Armee wirklich?
Stärke und Schwäche liegen im Falle Nordkoreas dicht beieinander. Das Reich von Führer Kim Jong Un hat zwar nur 26 Millionen Einwohner, die laut Weltbank lediglich um die 600 Dollar Wirtschaftskraft pro Kopf erarbeiten. Südkorea hat etwa doppelt so viele Einwohner und ein 64-mal so hohes Bruttoinlandprodukt. Militärisch gilt Nordkorea jedoch als grosse Bedrohung.
Im Global-Fire-Power-Index, der die militärische Schlagkraft von 147 Ländern vergleicht, liegt Nordkorea auf dem 36. Platz. Bei der Truppenstärke rangiert Nordkorea mit 1,3 Millionen aktiven Soldaten hinter China, Indien und den USA an vierter Stelle. Nordkorea zieht fast alle Männer für bis zu zehn Jahre ein – und auch viele Frauen.
Nordkorea unterhält zudem Spezialeinheiten mit 200 000 Soldaten, die auf Blitzangriffe und Infiltration gedrillt sind. Laut einer Studie des amerikanischen Militärgeheimdienstes gehören diese Einheiten «zu den am besten ausgebildeten, ausgerüsteten, ernährten und motivierten Streitkräften der Koreanischen Volksarmee».
Darüber hinaus ist die gesamte Gesellschaft militarisiert, mit Ausbildungseinheiten der Reservisten und paramilitärischen Strukturen bis in die Jugend.
Die Kampfkraft der nordkoreanischen Armee ist wegen der Armut des Landes geringer, als die absoluten Zahlen vermuten lassen. Erstens müssen die Soldaten einen grossen Teil ihrer Arbeitszeit darauf verwenden, das wirtschaftliche Überleben ihrer Einheiten sicherzustellen. Denn die staatlichen Versorgungskanäle sind weitgehend zusammengebrochen.
Armeelastwagen werden für zivile Transportdienste vermietet. Das Militär betreibt auch eigene Fabriken und Farmen. Zweitens mobilisiert die Führung die Heerscharen regelmässig zum Bau von Strassen und Brücken. Oder als Landarbeiter für die kaum mechanisierte Landwirtschaft, in der Traktoren bis heute eine Seltenheit sind.
Drittens leidet die Ausbildung, weil es den Einheiten an Material und vor allem an Treibstoff mangelt. Ein Beispiel: Laut einer Studie des amerikanischen Militärgeheimdienstes trainieren selbst Nordkoreas Kampfpiloten nur 15 bis 25 Stunden im Jahr. Zum Vergleich: Die Nato strebt 180 Stunden als Standard an.
Doch Führer Kim will das ändern. Seit seinem Amtsantritt lasse er realistischer und komplexer trainieren, berichtet der amerikanische Militärgeheimdienst. Durch die Lieferung von Waffen und nun auch Soldaten an Russland erhält Kim nun unter anderem auch Öl, Rohstoffe, Geld und Lebensmittel, mit denen das Militär seine Bereitschaft verbessern kann.
Ähnlich wie bei den Truppen verhält es sich mit der Ausrüstung Nordkoreas. Die Zahlen sind enorm. So verfügt Nordkorea laut der Online-Militärzeitschrift «Warpower: North Korea» über mehr als 5800 Panzer und 500 Schiffe, mehr als doppelt so viele wie der Süden. Die meisten Waffen sind jedoch alt und wegen des ständigen Materialmangels schlecht gewartet. Zudem mangelt es an Rohstoffen und sogar an Nahrungsmitteln.
Ein grossangelegter Angriff auf Südkorea mit konventionellen Waffen gilt daher als unwahrscheinlich, zumal Südkorea dem Norden konventionell an Kampfkraft überlegen ist. Aber für eine sogenannte asymmetrische Kriegsführung, also kleinere Attacken mit grosser Wirkung, reicht es allemal.
Ein Grund dafür ist die schlagkräftige Artillerie, die entlang der Grenze zu Südkorea stationiert ist. Ohne lange Vorwarnzeit könnte Kim die südkoreanische Hauptstadt Seoul beschiessen, die unweit der Grenze liegt. Die Marine wiederum verfügt über zahlreiche kleinere Schiffe, amphibische Einheiten und U-Boote für Blitzangriffe auf Schiffe oder Inseln.
Vor allem aber baut Nordkorea sein Arsenal an Atomwaffen und Raketen rasant aus, die Südkorea, Japan und inzwischen auch die USA treffen können. Westliche Experten gehen davon aus, dass Nordkorea mindestens mehrere Dutzend Atomsprengköpfe gebaut hat und laut der amerikanischen Denkfabrik Rand Corporation über genug atomwaffenfähiges Material für 112 weitere Bomben verfügt.
Eine grosse Sorge in Südkorea und im Westen ist nun, dass Russland den Norden im Gegenzug für die Waffenhilfe auch mit Know-how oder gar Material zum Bau von Raketen und Atomwaffen unterstützen könnte. Gleichzeitig belebt Kim durch die Waffenlieferungen die Rüstungsfabriken, erneuert seine Munitionsarsenale und verbessert seine Kriegsgeräte.
Zudem haben Russlands Staatschef Wladimir Putin und Kim im Juni einen militärischen Beistandspakt geschlossen. Experten befürchten nun, dass Russland Nordkorea im Kriegsfall aktiv unterstützen könnte. Der amerikanische Sicherheitsberater Bremmer sagt: «Die Risiken sind deutlich gestiegen, weil die Nordkoreaner jetzt mit Putins Unterstützung wie ein Schurkenstaat agieren.»
Erschwerend kommt hinzu, dass Russland mit seinem Veto im Uno-Sicherheitsrat neue Sanktionen gegen Nordkorea verhindert und alte untergräbt. So hat Putin dafür gesorgt, dass das Mandat des Gremiums, das die Sanktionen überwacht, im April dieses Jahres aufgelöst wurde. Seitdem ist die Uno offiziell blind, wenn es um Sanktionsverstösse geht.
Auch China fällt als Einflussfaktor vorerst aus, und zwar aus zwei widersprüchlichen Gründen. Erst hat Peking wegen des wachsenden Konflikts mit den USA und der Allianz mit Russland die Uno-Sanktionen gegen Nordkorea mit untergraben. Nun schwindet durch Kims Russlandpakt Chinas Einfluss auf seinen eigensinnigen Schützling. Selbst China wisse nicht, wie weit der nordkoreanisch-russische Sicherheitspakt gehe, sagt der Experte Bremmer.
Planer im Westen bereiten sich auf verschiedene Krisenszenarien vor. Dazu gehört neben einem Angriff Nordkoreas gegen Südkorea auch eine militärische Begleitung eines chinesischen Angriffs auf Taiwan. Im zweiten Fall könnte Kim eine zweite Front eröffnen, um amerikanische Truppen zu binden und so gemeinsam mit China und Russland den Erzfeind zu besiegen.
Als wahrscheinlicher gelten jedoch militärische Provokationen, etwa ein siebter Atomtest vor oder nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen Anfang November. Auch ein Angriff auf fünf von Südkorea kontrollierte Inseln nahe der nordkoreanischen Küste im Gelben Meer oder gar deren Besetzung gehört zu den Gedankenspielen.
Damit könnte Nordkorea testen, ob die USA den Süden tatsächlich bei der Rückeroberung der Inseln unterstützen oder ob sie sich wegen der Androhung von Atomschlägen gegen die USA zurückhalten.
Aber auch global wächst die Gefahr, dass Nordkorea wie in der Vergangenheit zum Waffenlieferanten für Terroristen und aggressive Regime wird. Die USA befürchten bereits, dass Kim Atomwaffen an Iran liefern könnte.
Die Wahlen in den USA verstärken die Verunsicherung. Eine mögliche zweite Amtszeit von Donald Trump schürt gerade in Südkorea die Sorge, dass Trump die Allianz untergraben, womöglich amerikanische Truppen teilweise oder vollständig abziehen und einen atomaren Kuhhandel mit Nordkorea abschliessen könnte. Nordkorea wird damit in den nächsten Wochen, Monaten und womöglich Jahren ein wichtiger Unsicherheitsfaktor für die weltweite Sicherheitslage bleiben.