Shell setzt auf sein schmutziges Kerngeschäft, verabschiedet sich von vielen Investitionen in erneuerbare Energien. Gleichzeitig malt die Firma ein ziemlich grünes Bild von der Zukunft. Wie passt das zusammen?
Shell gehört zu den grössten Erdölunternehmen der Welt. Nach einem kurzen Abstecher in die Welt der grünen Energien Anfang der 2020er Jahre konzentriert sich der Energieriese unter der Leitung des CEO Wael Sawan heute wieder auf seine Kernkompetenz im Erdöl- und Gasgeschäft. Das Unternehmen hat sich zudem vor Gericht erfolgreich gegen neue Emissionsauflagen gewehrt und den Klimakampagnen in den Gerichtssälen Europas so einen Schlag versetzt.
Kurzum, Shell ist kein Posterboy für die Klimabewegung. Im Gegenteil, Shells Geschäft mit fossilen Brennstoffen treibt die Erderwärmung weiter an. Umso erstaunlicher scheint es, dass sich die Firma gleichzeitig sehr von der grünen Energiewende überzeugt zeigt. Nachlesen lässt sich das in der jüngsten Ausgabe der hauseigenen Zukunftsszenarien, die Shell seit rund 50 Jahren in unregelmässigen Abständen immer wieder veröffentlicht.
Shell sagt, die Energiewende sei unumkehrbar
Während die «Drill, baby, drill»-Politik Donald Trumps die Langlebigkeit der Erdöl- und Gasindustrie rhetorisch befeuert, Wind- und Solarprojekte bremst und Emissionsauflagen zurückdreht, zeichnet Shell eine andere Zukunft. Im Bericht sind die fossilen Brennstoffe ab den späten 2030er Jahren auf dem Rückzug, grüne Energietechnologien unwiderruflich auf dem Vormarsch und sogar die internationalen Klimaziele in Reichweite.
Wie erklären Shells Prognostiker eine solche Zukunft, die sonst eher an eine grüne Denkfabrik erinnert? Auf Linkedin formulierte die bekannte amerikanische Klimawissenschafterin Katherine Hayhoe ihre Skepsis gegenüber den «äusserst optimistischen» Zukunftsbildern des Erdölgiganten.
Noch decken Öl, Gas und Kohle weiterhin fast 80 Prozent des Energiebedarfs ab. Seit Jahrzehnten hat sich der Anteil kaum geändert. Nun aber zeichnet sich der grüne Wendepunkt ab: «Der technologische Wandel hat den Point of no Return überschritten», sagt Laszlo Varro im Gespräch, und fügt hinzu: «Es wäre eine intellektuelle Herausforderung, ein Szenario zu entwerfen, in dem der Anteil der sauberen Energie im System nicht steigt». Als Vizepräsident für den Bereich «Global Business Environment» ist der Ungar und ehemalige Chefökonom der Internationalen Energieagentur für die Energieszenarien zuständig.
In allen Szenarien braucht es mehr Strom
Das hat viel mit einer Entwicklung zu tun: Die Wichtigkeit von Strom in der Wirtschaft nimmt im Laufe der kommenden Jahrzehnte stark zu, die Nachfrage steigt. Autos, Heizungssysteme und Industrieanlagen laufen zunehmend mithilfe von Strom. Dazu kommt der Stromverbrauch durch digitale Technologien, angetrieben durch den Energiehunger von Rechenzentren für die künstliche Intelligenz (KI).
Langfristig profitieren grüne Technologien, allen voran Solar- und Batterietechnologien, aber auch die Atomkraft. Der Marktanteil von flüssigen und gasförmigen Brennstoffen nimmt ab. Die Gründe hinter dem Wachstum der erneuerbaren Energien? Insbesondere Solar- und Batterieprojekte seien in der Herstellung nicht aufwendig, und China investiere massiv, sagt Varro. Kurz- bis mittelfristig bewähren sich jedoch weiterhin die fossilen Brennstoffe, die Nachfrage nach Erdgas wächst.
Die Elektrifizierung der verschiedenen Wirtschaftssektoren sei das wichtigste übergreifende Thema in den diesjährigen Szenarien, so Varro. Je nach Zukunftsbild unterscheidet sich die Geschwindigkeit, mit der diese Elektrifizierung voranschreitet. Aber die Richtung hin zu mehr Strom und grünen Energietechnologien ist in allen Szenarien gegeben.
Die Klimapolitik in einer angespannten Welt
Ein Blick auf die Annahmen, mit denen das Shell-Team gearbeitet hat, zeigt, welche Faktoren und Argumente diese Entwicklung antreiben und verlangsamen können. Das erlaubt auch einen analytischen Rahmen, mit dem der gegenwärtige Zustand der Klimapolitik eingeordnet werden kann.
So treibt etwa in einer von Konflikten geprägten Welt die Sorge um die Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten die Elektrifizierung an. Das wird beispielsweise als ein Hauptgrund für Chinas Vorstoss bei den Elektroautos (und schon heute als einen der Gründe für die Energiewende in Europa) aufgeführt.
Gleichzeitig ist diese Welt von fehlendem Vertrauen in die globalen Wertschöpfungsketten für saubere Energietechnologien geprägt. Industriepolitische Interessen- und Klientelpolitik in den einzelnen Ländern spielen eine Rolle: Manche Regierungen möchten wichtige Geschäftsfelder schützen, etwa die Autoindustrie in Deutschland. Unpopuläre Mandate für grüne Technologien, etwa Gasheizungen gegen Wärmepumpen auszutauschen, werden von der Politik kassiert.
Die Folge für die Energiewende? Der Fortschritt ist langsam. Die fossilen Brennstoffe halten sich über das Jahr 2050 hartnäckig im System, was auch zu «schmerzhaften» gesellschaftlichen Auseinandersetzungen führt. Und dennoch zeigt sich auch hier, die Verlagerung in Richtung Solar-, Batterie- und weiteren grünen Technologien ist nicht mehr zu stoppen. Shell rechnet dabei mit einer globale Erwärmung von 2,2 Grad. Das liegt zwar über dem Ziel des Pariser Klimaabkommens, aber unter den 3 Grad, auf die die Welt laut Uno-Hochrechnungen zusteuert.
Dagegen geht in einer Welt, die von technologischer Innovation und Durchbrüchen durch die künstliche Intelligenz geprägt ist, die Elektrifizierung sehr viel schneller voran. Die Nachfrage nach Öl und Gas fällt nach 2040 stark ab, und erneuerbare Technologien, insbesondere Solar- und Batterietechnologien, profitieren. Emissionen werden mittels technologischer Eingriffe aus der Atmosphäre entfernt, die Klimaziele des Pariser Abkommens werden knapp erreicht.
Was bringt diese Zukunft einem Erdölunternehmen?
Shells Zukunftsbilder lassen sich nicht direkt in die Geschäftsstrategie des Unternehmens übersetzen. Das Unternehmen verkauft weiterhin fossile Brennstoffe, die den Klimawandel anheizen.
Aber sie beeinflussen dessen strategische Aussicht. Denn die Szenarien geben einen Einblick in das Denken eines der grossen Erdölunternehmen über die technologischen, politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten und Bestimmungsfaktoren der kommenden Jahrzehnte.
Eine Frage drängt sich im Gespräch mit Laszlo Varro, dem führenden Kopf hinter den Szenarien, deswegen auch immer wieder auf: Wie passt der Öl- und Gasriese Shell in eine solche grüne Zukunft?
Aktivisten haben in der Vergangenheit gefordert, dass die grossen Erdölfirmen «ein Teil der Lösung» sein, also aus dem Geschäft mit den fossilen Brennstoffen aussteigen sollen. Kritiker sagen, dass Shell die zukünftige Nachfrage nach Erdöl und Gas weiterhin bewusst überschätzt. Das betreffe vor allem die Prognosen für Flüssigerdgas (LNG), eines der Hauptgeschäfte für das Unternehmen
Shell hat unter der Führung von Wael Sawan jedoch klargemacht, dass seine Rolle in der Energiewende hauptsächlich bei den fossilen Brennstoffen liegt. Dort, wo es einen Wettbewerbsvorteil im Markt hat – und dort, wo es die Emissionen in der Produktion so weit wie möglich reduzieren kann.
Denn auch in den Klimaszenarien des Weltklimarats bedienen Erdöl und Erdgas weiterhin einen gewissen Anteil der Energienachfrage. Für ein Unternehmen wie Shell geht es also vor allem darum, sich im schrumpfenden Markt für fossile Brennstoffe gegenüber seinen Mitbewerbern zu behaupten.
Die Formulierung «gestrandete Vermögenswerte» lässt sich in den Szenarien derweil nicht finden. «Wir sehen eine bedeutende Rolle für Erdgas in der Energiewende, insbesondere für Flüssigerdgas in denjenigen Volkswirtschaften, die heute von der Kohle abhängen», sagt Varro und zeigt auf Asien.
Die erneuerbaren Energien werden anderen Unternehmen überlassen. «In welchem Teil in der Lieferkette von Solar- und Windenergie ist Shell wettbewerbsfähig?» Das sei doch die strategisch relevante Frage, sagt Varro. Es gebe zwar interessante Diskussionen darüber, in anderen Technologiebereichen sei die Lage jedoch klarer. So sieht Shell laut Varro eine Rolle für sich bei denjenigen Technologien, die CO2 aus der Atmosphäre entfernen oder in Fabrikschloten absondern und langfristig speichern können.
Für Aktivisten läuten bei solchen Gesprächspunkten die Alarmglocken. Sie sehen diese Technologien als ein Ablenkungsmanöver, um weiterhin fossile Brennstoffe verbrennen zu können. Gleichzeitig zeigen die Klimamodelle jedoch auch, dass solche Anwendungen notwendig sind, um die Klimaziele zu erreichen. Forscher und Aktivisten arbeiten heute schon an Vorschlägen, um die Risiken der Anwendung zu minimieren.
Varro zeigt sich jedenfalls als unsentimentaler Glaubender der Energiewende: «Die bemerkenswerte, lang weilende Stabilität der fossilen Brennstoffe, die während eines halben Jahrhunderts bei einem Anteil von etwa 80 Prozent stagnierten, ist so gut wie sicher vorbei.» Das Energiesystem wird grüner, so viel steht fest, sagt Varro. «Aber wie schnell das in Zukunft geschieht, hängt stark von der Politik ab.»
Visuelle Mitarbeit: Eike Hoppmann