In der Munitionsfabrik Altdorf arbeiteten während des Zweiten Weltkriegs Hitler-Sympathisanten. Gleichzeitig produzierte das Rüstungsunternehmen für Deutschland. Das führte zu heiklen Situationen, wie ein kürzlich erschienenes Buch zeigt.
Die 19-jährige Olga K. war schockiert, als sie am 10. Januar 1941 im Restaurant Burg in Attinghausen eine Stelle als Serviceangestellte antreten wollte. «Wie ich das Zimmer betrat, stellte ich sofort fest, dass ob der darin befindlichen Waschkommode ein Bildnis des deutschen Reichskanzlers Adolf Hitler aufgemacht war», sagte sie vor Gericht aus. Als K. dann auch noch mitbekam, dass die Wirtin ausgewählte Gäste mit dem deutschen Gruss und «Heil Hitler» begrüsste, verliess sie fluchtartig den Kanton Uri.
Mit dieser Szene beginnt das Buch «Die Nazis vom Schächenwald», das der Historiker Reto Gamma kürzlich veröffentlicht hat. Dass das Restaurant Burg eine dunkle Vergangenheit hat, ahnte der gebürtige Urner schon als Jugendlicher. Als er nämlich seine erfolgreich bestandene Matura mit einem Essen in der «Burg» feiern wollte, blockte sein Vater ab: «Das kommt nicht infrage. Der Wirt ist ein Nazi.» Gamma erinnert sich auch an andere Begebenheiten, die ihm deutlich machten, dass in der Aktivdienstgeneration Wissen um die nationalsozialistischen Umtriebe vorhanden war.
Hakenkreuzfahne weht über Restaurant
Nach seiner Pensionierung beschloss der Journalist und ehemalige Generalsekretär der SP Schweiz (2001–2005), diesen Gerüchten auf den Grund zu gehen. Dabei stiess er im Bundesarchiv auf die Akten eines Strafprozesses vor dem Militärgericht. «Diese Dokumente haben es mir ermöglicht, die Geschehnisse von damals aufzuarbeiten», sagt Gamma, der in Göschenen aufgewachsen ist. Im Rahmen dieses damals geheimen Prozesses machte Olga K. ihre eingangs zitierte Aussage.
Gammas Recherchen zeigen, dass es im Kanton Uri zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eine aktive Vereinigung von Nationalsozialisten gab. Brisant ist, wo viele der hitlerfreundlichen Männer arbeiteten. Nämlich in einem Betrieb, der für die von den Achsenmächten eingeschlossene Schweiz kriegswichtig war und für Spione deshalb höchst interessant. Es war die eidgenössische Munitionsfabrik Altdorf (MFA), von den Einheimischen aufgrund ihres Standorts meist «Schächenwald» genannt.
Anführer der Ortsgruppe war Hans Imholz, der Sohn des damaligen Wirtes der «Burg». Das Restaurant war der wichtigste Treffpunkt der Hitler-Sympathisanten. In der Umgebung des Gasthofs, wo ab und zu eine Fahne mit Hakenkreuz gehisst wurde, kam es mehrmals zu Schlägereien mit Urnern, die sich gegen die Anbiederung ans «Dritte Reich» wehrten. Nach einer solchen Auseinandersetzung wurden Hans Imholz und sein Freund Josef Wipfli, der ebenfalls in der MFA arbeitete, im Januar 1940 wegen Tätlichkeit, Herausforderung und Nachtruhestörung zu Bussen verurteilt.
In dem Rüstungsunternehmen, in dem nur Schweizer Bürger arbeiten durften, waren Imholz und seine Gesinnungsgenossen Aussenseiter. Der grosse Rest der Belegschaft von rund 2700 Angestellten lehnte den Anschluss an Deutschland ab und wollte vielmehr dazu beitragen, dass sich die Schweiz in diesen Kriegsjahren erfolgreich gegen Deutschland wehren konnte. Sie waren überzeugt, mit der Herstellung von Munition einen wichtigen Beitrag zur Landesverteidigung zu leisten.
Die «Gruppe Altdorf» suchte deshalb vor allem den Kontakt zu Gesinnungsgenossen in anderen Kantonen. Im Oktober 1940 organisierte Imholz eine Carfahrt zu einem Vortrag im Zürcher Restaurant Speer. Dort traten Robert Tobler, der Leiter der Frontenbewegung Eidgenössische Sammlung, und Karl Meier, ein Frontenführer aus Schaffhausen, auf. Ein Teil der 16-köpfigen Gruppe aus der Innerschweiz wurde Mitglied der Eidgenössischen Sammlung. Nach wenigen Wochen traten sie wieder aus, weil ihnen diese Gruppierung «zu wenig radikal» war.
Der Kantonspolizei Uri waren verschiedene dieser Aktivitäten bekannt. So wurde etwa der Carchauffeur über die Fahrt nach Zürich befragt. Auch die Fabrikleitung wusste Bescheid und markierte die Lohnkarten der Frontisten mit einem Hakenkreuz. Angesichts der wachsenden Bedrohung der Schweiz wollte man dem Treiben potenzieller Spione nicht länger tatenlos zusehen. Im April 1941 wandte sich die MFA-Direktion an die Bundesanwaltschaft. Sie übermittelte eine Liste mit 8 Namen nach Bern, die sie als Mitglieder der Arbeiterbewegung der Nationalen Front identifiziert hatte.
Nach einem grossen Pfingsttreffen von Hitler-Sympathisanten schlug die Bundesanwaltschaft am 4. Juni 1941 zu. In einer filmreifen Razzia durchsuchten Beamte der Bundes- und der Kantonspolizei insgesamt 18 Wohnungen in den Kantonen Uri, Luzern und Zürich. 9 Männer wurden in Untersuchungshaft genommen. Offiziell blieben die Ermittlungen geheim, doch im Kanton Uri wussten weite Teile der Bevölkerung davon.
Nach der Veröffentlichung von Gammas Buch tauchte ein Brief des bekannten Urner Malers Hans Danioth auf, in dem er die Verhaftungsaktion schildert. Imholz und seine Getreuen hätten die Eroberung Kretas durch die Deutschen gefeiert. «In den Wirtschaften Altdorfs waren diskret zwanzig Bundespolizisten in Zivil untergebracht, die dann auf einen Alarm hin so gegen 2 oder 3 Uhr morgens die Burg umzingelten und die ganze Brut gefangen setzte», schrieb Danioth an einen Freund. Der Brief wurde von dem Filmemacher Felice Zenoni veröffentlicht. Er hat einen Dokumentarfilm über den Maler gedreht, der in der Schöllenenschlucht unter anderem den «Teufel mit Ziegenbock» gemalt hatte.
Nationalsozialistischer Führerstaat geplant
In einem ersten Verhör mit der Militärjustiz gab Imholz zu: «Jawohl, unsere Gruppe plant die Errichtung eines nationalsozialistischen Führerstaates.» Doch die Gesinnung als solche war nicht strafbar. Zum Verhängnis wurden ihm und Wipfli jedoch zwei Aktionen. Im April 1941 hatten sie im Auftrag von Wilhelm Staiger einen Zeitzünder für eine 7,5-Zentimeter-Fliegerabwehrgranate gestohlen und nach Zürich gebracht. Der in Zürich wohnhafte Deutsche Staiger war Chef der «Kampfgruppe Speer».
Ausserdem hatte Staiger bei Wipfli die Anfertigung einer Skizze der Munitionsfabrik in Auftrag gegeben. Darauf sind 68 Gebäude eingezeichnet, in denen Sprengstoffe hergestellt und gelagert wurden. Der Zeitzünder und die Skizze wurden bei der Hausdurchsuchung in Zürich gefunden.
Aufgrund der strengen Pressezensur erfuhr die Öffentlichkeit offiziell nichts von den Aktionen der Militärjustiz gegen die Urner Nazis. Erst eine kleine Notiz im Amtsblatt vom 17. Juli 1941 machte den Fall quasi öffentlich. Das Urner Obergericht suspendierte Johann Imholz, den Vater von Hans Imholz, vom Amt des Landgerichtspräsidenten. Dies «bis zum Abschluss eines derzeit pendenten Untersuchungsverfahrens betr. staatsfeindliche Umtriebe im Kanton Uri». Nach den Recherchen von Gamma war Johann Imholz kein bekennender Nazi. Dennoch schien es den Behörden zu heikel, den Vater eines bekennenden Nazis in dieser verantwortungsvollen Position zu belassen. Für seinen Sohn hatte der Skandal schwerwiegende Folgen.
Am 26. Januar 1942 fand im Bezirksgebäude Zürich die Hauptverhandlung des Militärkreises 3A in Sachen «Staiger Wilhelm 1898 & Konsorten, Verletzung militärischer Geheimnisse», statt. Angeklagt waren 10 Personen, unter ihnen Imholz und Wipfli. Imholz wurde vor allem vorgeworfen, die Skizze der MFA gezeichnet zu haben. Er habe, so die Anklage, «Tatsachen, die mit Rücksicht auf die Landesverteidigung geheim gehalten werden, in einer Zeit, da Truppen zum Aktivdienst aufgeboten wurden, ausgespäht, um sie einem fremden Staate bekannt zu machen». Das sei Landesverrat. Imholz hatte in einer früheren Vernehmung angegeben, er habe beim Zeichnen der Skizze «angenommen, sie sei für Deutschland bestimmt». Diese Aussage widerrief er später.
Robert Tobler, der Verteidiger von Imholz, konterte diesen Vorwurf unter anderem mit der Behauptung, dass ausländische Staatsangehörige durch die MFA geführt worden seien. Zudem wies er darauf hin, dass die Munitionsfabrik Altdorf auch nach Deutschland liefere. Die Anlage selbst stelle daher «kein militärisches Geheimnis» dar. Der Ankläger ging auf diese Argumentation nicht ein, sondern zeigte Härte.
Der Auditor Guido Dubler erklärte, dass es für die Angeklagten Imholz und Wipfli keine mildernden Umstände gebe. «Sie verrieten ihr eigenes Land und bewiesen damit eine derart gemeine und gefährliche Gesinnung, dass nur eine ganz exemplarische Strafe ausgesprochen werden kann.» Damit war die Todesstrafe gemeint.
Das Gericht, bestehend aus sieben Richtern, vier Offizieren und drei Soldaten, erwog ernsthaft die Todesstrafe, wie es im Protokoll heisst. «Dennoch hat sich das Gericht in seiner Mehrheit zu dieser Strafe nicht entschliessen können.» Ausschlaggebend waren unter anderem das jugendliche Alter von Imholz (28) und Wipfli (21) sowie die Tatsache, dass sie vom Deutschen Wilhelm Staiger verführt worden waren. Die beiden Angeklagten wurden schliesslich zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Staiger erhielt 12 Jahre Zuchthaus sowie 15 Jahre Landesverweisung aufgebrummt.
Die Schweizer Öffentlichkeit erfuhr vom Prozess und von den Urteilen erst durch eine kurze Pressemitteilung der Militärjustiz vom 29. Januar 1942, in der die Namen der Verurteilten nicht genannt wurden. Erst als sich nationale Medien wie die «Neue Zürcher Zeitung» und der «Bund» beschwerten, gab die Militärjustiz die Namen von Hans Imholz und Josef Wipfli bekannt. Um welche militärische Anlage es sich handelte, blieb geheim, aber im Kanton Uri wusste man natürlich Bescheid.
Geheime Waffenlieferung an Deutschland
Reto Gamma hat für sein Buch auch Originalakten ausgewertet, die erst nach 1990 zugänglich wurden. Sie zeigen, dass zwischen dem Rüstungskonzern Oerlikon-Bührle und der deutschen Wehrmacht sehr wohl geheime Beziehungen bestanden. Am 9. Juni 1940, also gut ein Jahr vor der Razzia gegen die Urner Nazi-Gruppe, reisten der Direktor der MFA, Oberstleutnant Louis Reusser, und Oberst Robert Fierz, der Chef der Kriegstechnischen Abteilung des Eidgenössischen Militärdepartements, heimlich zum deutschen Heereswaffenamt nach Berlin.
In dieser Sitzung verlangten die Vertreter der Wehrmacht von den Schweizer Offizieren Waffenlieferungen. Sollte sich die Schweiz weigern, könnte «die Einfuhr von Kohle und Eisen in die Schweiz plötzlich unterbrochen werden», lautete die Drohung. Konkret wollte das Hitler-Regime von der Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon 2000 Fliegerabwehrkanonen inklusive 8 Millionen Schuss Munition kaufen.
Die geheimen Kontakte zeigten im Herbst 1940 Wirkung. Wie von den Deutschen gefordert, stellte die Schweiz die Waffenlieferungen an die Alliierten ein. Einige hundert Geschütze, die Oerlikon-Bührle für England produziert, aber noch nicht ausgeliefert hatte, wurden nach Deutschland umgeleitet. Die Munitionsfabrik Altdorf erhielt von Bührle einen ersten Grossauftrag über 7 Millionen Schuss Munition.
Die Zusammenarbeit zwischen der MFA und Hitler-Deutschland musste geheim bleiben. Aus diesem Grund wurden entsprechende Aussagen der Verteidiger vor den Territorialgerichten, die auf diese Verbindung hinwiesen, nicht berücksichtigt. Dennoch kursierten auch in diesem Fall zahlreiche Gerüchte. So gab Wipfli im Juni 1941 bei einer Einvernahme an, er sei überrascht gewesen, dass Wilhelm Staiger Skizzen der MFA für Deutschland verlangt habe. Er sei davon ausgegangen, dass Deutschland solche Pläne längst besitze. «Ich folgerte das auch aus der Tatsache, dass die Munitionsfabrik für Deutschland fabriziert», sagte Wipfli.
Dieser Export von Kriegsmaterial aus einer staatlichen Munitionsfabrik nach Hitler-Deutschland sei offiziell kein Landesverrat gewesen, aber eine klare Verletzung der Neutralität, sagt Reto Gamma. «Dieter Bührle wurde nicht angeklagt, der junge Urner Nazi hingegen schon.»
Gammas Buch ist die erste grössere historische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Umtriebe im Kanton Uri. Literarisch wurden sie bereits früher verarbeitet. Der Schweizer Autor Peter Kamber hat die Taten von Wipfli und Imholz in seinen 2010 erschienenen Roman «Geheime Agentin» einfliessen lassen. Kamber wertete dafür dieselben Prozessakten aus wie Reto Gamma.
Reto Gamma: Die Nazis vom Schächenwald. Ein historischer Bericht. Alpenrot-Verlag, Bern 2025.