Viele Einheimische in Tourismusorten können es sich nicht leisten, ihre Häuser zu sanieren. Der Bündner Nationalrat Martin Candinas will daher das Zweitwohnungsgesetz lockern. In Brigels ist man skeptisch.
Die Brigelser Bergbahnen suchen zurzeit eine Sekretärin und einen Seilbahnmechatroniker, das Hotel La Val eine Reinigungskraft. Jobs gibt es einige auf dem sonnigen Hochplateau in der Bündner Surselva. Doch Wohnungen sind rar und teuer. Viele, die in Brigels arbeiten, fahren abends ins schattigere Tal runter.
Die Wohnungsnot hat die Berggebiete längst erreicht. Vor allem in den Tourismusorten haben die Einheimischen Mühe, eine Bleibe zu finden. Im Jahr 2023 betrug die Leerstandsquote in Brigels 0,55 Prozent, in Davos sogar 0,25 Prozent, wie es beim Bundesamt für Statistik heisst. Die hohe Nachfrage habe in den letzten Jahren die Mieten in die Höhe getrieben, klagen Berggemeinden.
Andernorts ziehen Einheimische weg, beispielsweise in Sumvitg (Leerstandsquote 0,86 Prozent), das ebenfalls in der Surselva liegt. Vielfach können es sich junge Familien nicht leisten, im geerbten Elternhaus zu bleiben.
Das liege auch am Zweitwohnungsgesetz, sagt Nationalrat Martin Candinas. Der Bündner kommt selbst aus der Surselva und kämpft seit vier Jahren für eine Lockerung des Gesetzes, das seit 2016 in Kraft ist. Nun könnte er damit durchkommen: Der Nationalrat hat sich bereits dafür ausgesprochen. Nächste Woche diskutiert der Ständerat das Geschäft
Neue Zweitwohnungen
Das Zweitwohnungsgesetz soll verhindern, dass Touristen Bergdörfer mit Ferienhäusern zupflastern, die nachher die meiste Zeit leer stehen. So dürfen Gemeinden, die mehr als 20 Prozent Ferienwohnungen haben, keine neuen bauen. Das soll auch so bleiben.
Doch Candinas möchte, dass Eigentümer von Häusern, die vor 2012 gebaut wurden, mehr Spielraum erhalten. Im Moment gilt: Wer ein altes Haus saniert oder umbaut, darf es vergrössern, aber nur um knapp ein Drittel. Wer aber abreisst, muss den Neubau an derselben Stelle und genau gleich gross bauen wie das alte Haus. Dies verunmöglicht vielfach, eine weitere Wohnung einzubauen.
Diese Einschränkung möchte Martin Candinas nun aufheben. Die historischen Gebäude seien für die Einheimischen häufig kaum tragbar. Könnte der Eigentümer neu aber eine zweite Wohnung einbauen und beispielsweise an Unterländer vermieten, nähme der Wert des Objekts zu. Entsprechend würde auch die Kreditwürdigkeit bei der Bank steigen. «Ein Einheimischer kann so die Sanierung seiner eigenen Wohnung über die Vermietung seiner zweiten finanzieren», sagt Candinas.
Sein Fazit: «Wir brauchen auch Investoren aus dem Unterland.» Sonst zögen die Einheimischen weg, und «am Schluss haben wir Bauruinen in den Dörfern».
Vor zehn Jahren drohten einige Dörfer in der Surselva fast auszusterben, erinnert sich Candinas. Ein «Zu verkaufen»-Schild reihte sich ans andere. Mittlerweile wurde viel saniert – häufig dank Unterländern. In vielen Gemeinden kam das gut an, entsprechend rennt Candinas mit seinem Vorschlag in den Bergen viele offene Türen ein. Die Konferenz der Gebirgskantone hat sich in der Vernehmlassung dafür ausgesprochen.
Ausverkauf des Dorfkerns
Es gibt aber auch Kritik, beispielsweise aus Brigels. Auch dort möchte man alte Häuser erhalten, wie Gemeindepräsident Clau Schlosser sagt. Er findet es daher gut, wenn man Eigentümern ein «Zückerli» gibt.
Allerdings bezweifelt er, dass dann wirklich Einheimische davon profitieren: «Wir haben ein Problem mit dem Ausverkauf unseres Dorfkerns», sagt er. Wer durchs Brigelser Zentrum geht, sieht umgebaute Holzhäuser mit Glasfronten und neuen Carports. Davor stehen SUV mit Zürcher oder Schwyzer Nummern. Junge Familien aus dem Tal könnten sich die Immobilienpreise nicht leisten, sagt Schlosser – daran ändere Candinas’ Vorschlag nichts. Am Ende bestehe die Gefahr, dass es durch die Lockerung einfach noch mehr Zweitwohnungen gebe.
Tatsächlich ist die Nachfrage nach alten Häusern gestiegen, seit man keine neuen Zweitwohnungen mehr bauen darf. Das hat der im Jahr 2023 publizierte Monitoring-Bericht zum Zweitwohnungsgesetz gezeigt. Die hohe Nachfrage hat die Immobilienpreise in die Höhe getrieben. Es ist lukrativ, Erst- in Zweitwohnungen umzuwandeln, weil Unterländer im Schnitt höhere Preise bezahlen können.
Die Gegner der Vorlage im Parlament fürchten, diese Tendenz nehme mit der Liberalisierung des Zweitwohnungsgesetzes noch zu. Besonders unter Druck kämen Mieterinnen und Mieter. Häuser mit günstigen Mietwohnungen würden abgebrochen und durch neue Eigentumswohnungen ersetzt, argumentiert die linke Minderheit. Der Bundesrat hat ausserdem Bedenken, dass die Lockerung der Verfassung widerspricht.
Die Diskussionen von Sumvitg bis Brigels zeigen: Je nach Lage der Gemeinde sind die Probleme andere. Das weiss auch Martin Candinas. Er appelliert daher an die Gemeinden, selber tätig zu werden und sich für bezahlbaren Wohnraum einzusetzen.
Brigels hat tatsächlich gehandelt und eine sogenannte «einheimische Zone» festgelegt. Die Gemeinde gibt 16 Bauplätze im Baurecht an Familien mit Kindern ab. Der jährliche Zins beträgt 800 bis 1000 Franken. Die Hälfte ist bereits verbaut.
Zweitwohnungsbesitzer sollen zahlen
Noch weiter will Pontresina gehen. Die Oberengadiner Tourismusgemeinde hat in den letzten Wochen Schlagzeilen gemacht. So stellt der Gemeindevorstand unter anderem eine neue Lenkungsabgabe zur Diskussion. Sie soll Zweitwohnungsbesitzer dazu motivieren, entweder ihre Immobilien an Einheimische zu vermieten oder einen Obolus im Bereich von jährlich drei Promille des amtlich geschätzten Verkehrswerts zu zahlen. Ein Teil des Geldes würde einer Stiftung zufliessen, die bezahlbaren Wohnraum für einheimische Mieterinnen und Mieter ermöglicht.
Die Vernehmlassung zum Thema ist abgeschlossen, die Gemeinde wertet jetzt die Antworten aus. Zweitwohnungsbesitzer haben bereits Widerstand angekündigt. Sie würden schon genug Abgaben bezahlen, etwa die Kurtaxen und die Liegenschaftssteuer, so wehren sie sich. Ausserdem besteht die Befürchtung, dass das lokale Gewerbe Aufträge verliert, wenn die Zweitwohnungsbesitzer unter Druck kommen und weniger umbauen. Gemeindepräsidentin Nora Saratz Cazin hofft auf Solidarität der Zweitwohnungsbesitzer: «Wir wollen warme und keine kalten Betten.»
Auch der Brigelser Gemeindepräsident Clau Schlosser wünscht sich mehr Solidarität – aber auch von Einheimischen. Häufig würden Brigelser ihre geerbten Häuser lieber für den Höchstpreis an Unterländer verkaufen statt für einen moderateren Preis an eine junge Familie.
Und Martin Candinas?
Er hat genug von der Stadt-Land-Diskussion und plädiert für ein besseres Miteinander zwischen Einheimischen und Zweitwohnungsbesitzern. «Wir reklamieren zu oft über die Gäste», sagt er. «Aber wir brauchen sie.» Das Gewerbe, die Läden, die Skigebiete und die Gastronomen, sie alle profitieren vom Tourismus. «Es darf nicht das Ziel der Bergkantone sein, uns nur über die Wasserzinsen und den Finanzausgleich zu finanzieren», findet Candinas. Ob bei den Ferienwohnungen oder beim Wolf: «Wir sind eine Gemeinschaft. Und müssen zusammen Lösungen finden.»