Innerhalb weniger Tagen spielten die drei führenden Ensembles am Lucerne Festival. Eine seltene Gelegenheit für einen direkten Vergleich. Ein Orchester hat knapp die Nase vorn.
In der Kultur gibt es wie im Sport eine verbreitete Lust an Superlativen: Wer ist der virtuoseste Pianist, wer die überzeugendste Sängerin, welche Ensembles mischen ganz vorne mit beim grossen Konzert der internationalen Spitzenorchester? Solche Fragen haben einen spielerischen Zug, denn jeder weiss, dass derartige Rankings immer nur Momentaufnahmen sein können und dass bei der Beantwortung jeweils auch Vorlieben, frühe Prägungen, Moden und Traditionen eine Rolle spielen.
Überdies sind Vergleiche in der Regel schwierig, denn selten treten die Kandidaten für den Ehrentitel des besten Künstlers oder des führenden Ensembles in unmittelbarer zeitlicher Nähe am selben Ort auf. Am Lucerne Festival geschieht jedoch jeden Sommer genau das, der Wettstreit unter den Besten der Besten ist hier seit Jahren Programm. Und so kann man im Konzertsaal des KKL wirklich einmal aus eigener Anschauung und mit gespitzten Ohren entscheiden, wem die Krone gebührt.
Während der vergangenen Woche gaben sich nämlich im KKL gleich drei der führenden Orchester Europas sozusagen die Notenpulte in die Hand. Und alle drei werden bei Umfragen in Fachmagazinen, aber auch in Diskussionen unter Konzertgängern regelmässig als Anwärter auf den Thron genannt.
Streng klassischer Rahmen
In Luzern begann der Reigen mit dem Concertgebouworkest aus Amsterdam, das in zwei Konzerten mit seinem künftigen Musikdirektor Klaus Mäkelä auftrat – der noch nicht dreissigjährige Finne gilt als Shootingstar der Branche. Es folgten die Berliner Philharmoniker mit zwei Abenden unter ihrem amtierenden Chef Kirill Petrenko, der längst aus dem Schatten seiner grossen Vorgänger Simon Rattle und Claudio Abbado getreten ist. Und schliesslich die Wiener Philharmoniker, ebenfalls mit zwei Programmen, in denen das Orchester, das traditionell ohne festen Chefdirigenten auskommt, mit Franz Welser-Möst zusammenarbeitete, dem ehemaligen Musikchef der Zürcher Oper.
Das Setting ist bei allen sechs Konzerten streng klassisch, es gibt keine innovativen Formate, keinerlei Experimente. Man kann dies kritisieren, doch in dem Fall, in der Höhenluft dieser Konzerte, wirkt das nebensächlich; im Rahmen des Bewährten geht es hier um letzte Verfeinerungen. Und es ist gerade die Vergleichbarkeit der Konstellation, die dem Gipfeltreffen der Spitzenorchester am Lucerne Festival seinen besonderen Reiz verleiht.
Welches ist also zurzeit das beste Orchester der Welt?
Ginge es allein um Tradition und Klangkultur wäre die Sache rasch zwischen Amsterdam und Wien zu entscheiden. Das Concertgebouw bezaubert mit seinem dunklen, erdigen und warmen Klang, man hört hier immer noch viel vom sogenannten Mischklang der Romantik, in dem alle Instrumente homogen miteinander verschmelzen und trotzdem als individuelle Farbakzente erkennbar bleiben. Nach schwächeren Phasen in den vergangenen Jahren, in denen das niederländische Vorzeigeorchester genau diese charakteristische Klangästhetik zu verlieren drohte, hat man sich nun wieder auf die ureigene Spieltradition besonnen. Unter Mäkelä spielt das Orchester auch technisch inzwischen wieder merklich präziser.
In Luzern treffen die Amsterdamer allerdings auf ein Ensemble, das alle diese Qualitäten auch vorweisen kann – und dazu noch eine entscheidende mehr: Es ist der einzigartig leuchtende und abgerundete Streicher-Sound der Wiener Philharmoniker, der unter den klassischen Sinfonieorchestern nach wie vor das Mass aller Dinge darstellt – übrigens ist das kein Zufall, denn die Mitglieder können auf einen Pool besonders wertvoller Instrumente zugreifen. Im KKL kommt diese klangliche Qualität exemplarisch bei der Aufführung von Anton Bruckners 9. Sinfonie zur Geltung. Franz Welser-Möst bewahrt hier selbst noch in den lautesten Passagen eine Balance zwischen den stark geforderten Blechbläsern und den Violinen und vermeidet so das gefürchtete monochrome Dröhnen, zu welchem schlechtere Orchester gerade bei Bruckner neigen.
Sublimierte Emotionen
Der Gesamtklang der Berliner wirkt demgegenüber neutraler, weniger gesättigt mit historischer Spieltradition. Man hört hier, wie sehr das deutsche Elite-Orchester von Simon Rattle und jetzt von Petrenko auf Präzision getrimmt wurde. Der Preis dafür ist eine gewisse Kühle und eine Kompaktheit des Klang, die das geballte Tutti gelegentlich hart wirken lässt. In der Aufführung der 9. Sinfonie von Gustav Mahler zeigt sich aber ebenso das überragende Niveau der Musiker, von denen viele, wie der Genfer Flötist Emmanuel Pahud, nebenbei Solokarrieren verfolgen. Alle technischen Probleme treten bei ihnen in den Hintergrund, es scheint sie fast nicht zu geben; auch nicht beim ausgesprochen subtilen Zusammenspiel im Ensemble – und das heisst gerade bei den horrend anspruchsvollen Mahler-Partituren einiges.
Bei der Neunten führt dies, wie schon in Brahms’ Erster am Vorabend, zu einem faszinierenden Phänomen: Statt mit den Herausforderungen der Materie zu kämpfen, wie man es vereinzelt beim Concertgebouw in Mäkeläs detailgenauer Lesart der Mahlerschen Fünften hört, können sich die Berliner in jedem Augenblick auf feinste Schattierungen des Ausdrucks konzentrieren. Nichts wirkt hier bloss vordergründig mit romantischer Leidenschaft aufgeladen, die Emotion wird vielmehr klug dosiert und dadurch sublimiert. Das führt zu einer höheren Stimmigkeit, einem So-und-nicht-anders-Gefühl, das dennoch nie in die Gefahr gerät, in Schönheit zu erstarren; denn immer ist hier ein vibrierender Energiestrom spürbar, der jeden Takt belebt.
Was es mit dieser besonderen Energie auf sich hat, erläuterte der Schweizer Geiger Christoph Streuli, Mitglied der zweiten Violinen, bei einem aufschlussreichen Post-Concert-Talk im KKL: Die Berliner Philharmonie verlange mit ihrer modernen Akustik einen aktiveren Einsatz, um Details plastisch zum Klingen zu bringen, als die ebenso berühmten historischen Spielstätten der Mitbewerber, also das Concertgebouw und der Goldene Saal im Wiener Musikverein. Die beiden Säle gelten als Musterbeispiele für eine Akustik, die vom besagten Klangideal der Romantik geprägt ist. Sie sorge dafür, so Streuli, dass die Musik per se sehr plastisch und substanzreich klinge; anders als in der Berliner Philharmonie sei dort deshalb sogar eine gewisse Zurückhaltung angesagt.
Kann man zu souverän sein?
Der Hinweis aus der Praxis erklärte vielleicht die etwas widersprüchliche Wirkung der zwei Gastauftritte der Wiener Philharmoniker. Während Bruckners Neunte und Alban Bergs «Lulu»-Suite am ersten Abend gerade von der Gelassenheit und der natürlichen Transparenz des farbenreichen Orchesterklangs profitierten, übertrieb man es anderntags mit der Zurückhaltung.
Mozarts «Prager» erstarrt hier tatsächlich in Schönheit – wie ein Museumsobjekt in einer Vitrine. Von Mozarts Nähe zur Bühne, zum Gesang, von seinem unablässig kompositorische Haken schlagenden Erfindergeist teilt sich zu wenig mit. Das mag auch daran liegen, dass man sich in Wien immer noch scheut, wegweisende Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis aufzugreifen, etwa die Schärfung der Artikulation oder eine an die Rhetorik angelehnte Gestaltung der Phrasen. Nicht nur bei Originalklang-Ensembles ist das seit Jahrzehnten Standard, auch Klangkörper wie das Tonhalle-Orchester Zürich haben diese und andere stilistische Entwicklungen längst aufgegriffen. Der einst gefeierte Wiener Mozart-Stil wirkt im Vergleich dazu bloss noch gediegen, er ist aus der Zeit gefallen.
Diskussionswürdig ist dagegen die Wiener Interpretation der «Symphonie pathétique» von Tschaikowsky: Welser-Möst nimmt den Druck aus dem hoch autobiografischen Werk, in dem Tschaikowsky, einer gängigen Lesart gemäss, seinen rätselhaften Tod wenige Tage nach der Uraufführung antizipiert hat. Dieser Hintergrund liegt mitunter tonnenschwer auf dem Stück. Welser-Möst zielt deshalb auf einen sachlicheren Ton, der das Stück formal sehr klar und fast klassizistisch abgeklärt präsentiert. Schlüsselmomente wie der verdämmernde Herzschlag des Schlusses wirken dennoch sehr beredt.
Allerdings wird hier auch der entscheidende Unterschied zur Berliner Konkurrenz greifbar: Während dort, namentlich bei Mahler, jedes Detail innerlich glüht, wirken die Wiener vom eigenen Musizieren nicht allzu angefasst. Fast scheint es manchmal, als schauten sie sich selber beim Spielen zu – nur wenige Orchester verfügen über die technische Souveränität dazu. Doch zum emotionalen Glutkern der Musik dringt man auf diese Weise nicht vor. Im Luzerner Wettstreit der Spitzenensembles trägt daher, alles in allem, diesmal Berlin den Sieg davon.