Detoxen, verzichten, fasten – während sich der Westen auf der Suche nach Wohlergehen selbst bestraft, essen die Japaner einfach schlauer.
Der Mensch liebt Gewohnheiten und Rituale. Ewige Kreisläufe, so sicher wiederkehrend wie der Mond am Nachthimmel. Wir erwarten sie und folgen ihren sanften Aufforderungen. Exemplarisch dafür steht das schlechte Gewissen unserer Ernährung gegenüber. Die ersten Tage im neuen Jahr nagt es am meisten, mit den steigenden Temperaturen versickern die Gedanken an Mässigung. Was kümmern uns dann Fehlbesiedelungen im Darm, hängende Körperpartien, katastrophale Leberwerte und explosive Blutdrücke in morschen Venen? Umso mehr betreiben wir unter den Gewissensbissen Well- und Fitness und schliessen Diätwetten ab. Natürlich nur gegen uns selbst, denn so bleibt die todsichere Niederlage von anderen unbemerkt.
Detox ist das magische Wort. Entgiften. Entschlacken. Verzichten. Schröpfen, Hungern, Glaubersalz. Explosives Abführen und strafende Blicke beim Gesundheitscheck. Jeden Bissen vierzigmal kauen, auf dass schon der zweite garantiert kalt auf die Gabel kommt. Sich von hochbezahlten Therapeutinnen mit übelriechendem, heissem Schlamm bewerfen lassen, mit nichts als einem peinlichen Einweg-Plastik-G-String bekleidet. Keine Qual, keine brachialen Behandlungen lassen wir aus, geht es um die Wiederfindung unseres Wohlergehens. Und um den Betrug an uns selbst.
Gesetzlich vorgeschriebener Ernährungsberater
Meine kürzliche Reise nach Japan hat mir einmal mehr gezeigt: Es geht auch anders. Mein erster Schritt auf Nippon-Boden liegt zwanzig Jahre zurück, und es brauchte nur wenige Stunden für die ersten, augenscheinlichen Erkenntnisse. Die Japaner sind nicht nur das freundlichste Volk auf diesem Planeten, sondern auch das bestgekleidete. Unmöglich, auf einen schlampig gestylten Einheimischen zu treffen. Und die dritte, für den Rest der Welt wenig schmeichelhafte Erkenntnis: die Absenz von übergewichtigen Menschen. Die Sumo-Ringer einmal ausgeblendet, eine Spezies, die sich sehr bewusst ihre Pfunde (und Muskeln darunter) anfuttert.
Sicher, da gibt es diese Theorien. Über weniger Verdauungsenzyme bei den Japanern. Über genetische Anpassungen aufgrund jahrhundertelang währender Entbehrungen durch Kriege, Hungersnöte und Isolation. Meiner Meinung nach: alles Ausreden unserer westlichen Zivilisationen, die sich undiszipliniert vollstopfen und sich in Fettschichten hüllen, als stünden nicht sieben, sondern siebenundsiebzig magere Jahre bevor. It’s the nutrition, stupid! Auch mehr Bewegung kann nicht die Ursache sein, denn joggende Japaner begegneten mir genauso selten wie volle Gyms.
Ich treffe meine gute Freundin Miya, Lehrerin an einer Schule in Roppongi, einem der unzähligen Quartiere Tokios. «Wir haben mehr als tausend Kids hier zwischen sechs und achtzehn und kein einziges mit Übergewicht. Wir Lehrer treffen uns regelmässig mit der Ernährungsberaterin der Schule, sie hat das letzte Wort bei der Menugestaltung. Jede Grundschule in Japan ist gesetzlich verpflichtet, die Stelle des Ernährungsberaters dauerhaft zu besetzen. Diese Person hat einen höheren Stellenwert als wir Lehrkräfte», erklärt sie. Und das Gesetz verlangt noch mehr.
Alle Mahlzeiten müssen täglich von Grund auf aus frischen Zutaten zubereitet werden, vorgefertigte Grundnahrungsmittel wie Pasten (ausser Miso) sind tabu. Und sie müssen in einer festgelegten Ausgewogenheit alle für die Japaner wichtigen Produkte erhalten, jeden Tag. Da nimmt mich wunder, welche. «Überhaupt nichts Exotisches und keine Geheimzutaten», so Miya. «Viel Gemüse und Getreide, vor allem Nudeln und Reis, Sojabohnen in Form von Tofu und Milch, auch Fleisch, wenig Obst und Milchprodukte, viel Fisch, gekocht und roh. Und natürlich regelmässig Fermentiertes, wie Miso, Natto und Koji – wichtig für eine gesunde, zügige Verdauung. Darüber hinaus einen grossen Anteil an Meeresalgen. Das alles wird gedämpft, gedünstet oder grilliert, insgesamt sehr fettarm zubereitet.»
Essen von kleinen Schüsseln und Tellerchen
Am nächsten Tag darf ich Miya in ihre Schule begleiten, wir kommen rechtzeitig zum Frühstück, das den Kids (und uns) hier in Form einer wärmenden und satt machenden Nudelsuppe aufgetischt wird. «Das sorgt nicht nur für ein wohliges Gefühl im Bauch, sondern füllt auch den Magen. Mit dem Effekt, dass die Kids bis zum Mittag gar nicht ans Snacken denken», meint Miya und saugt schlürfend ihre Nudeln ein. Ich tue es ihr gerne und lautstark nach.
Darüber hinaus folgen die Japaner von jeher ganz bestimmten Essgewohnheiten. Dazu gehört die Idee des «Hara hachi bu». Einer der Schlüssel zum langen Leben, wofür Japan ausserordentlich viele Beispiele kennt. Diese konfuzianische Regel, die besagt, dass man nur bis zu einem Sättigungsgefühl von etwa 80 Prozent essen soll, funktioniert aber nur, wenn man langsam isst. Es dauert nämlich etwa zwanzig Minuten, bis der Körper registriert, dass der Magen sein Fassungsvermögen erreicht hat. Es geht also hier nicht nur darum, was wir essen, sondern vor allem auch, wie.
Da hilft es auch, dass grosse Portionen hier eher selten anzutreffen sind und die Speisen oft in kleinen Schüsseln und Tellerchen angeboten werden. «Da essen wir automatisch weniger», sagt Miya und zieht sich ihre letzte Nudel rein. Sie schaut mich streng an. «Ich glaube, wenn du sagst, du seist satt, und wenn ich sage, ich sei nicht mehr hungrig, da tut sich zwischen uns eine nicht geringe Kalorienlücke auf.»
Nun, ich werde sehen, wie sich alle diese Erkenntnisse in meinen Speiseplan einbauen lassen, um die (für die einen) unangenehmen Auswirkungen von Wein, Wurst und Pasta etwas abzufedern. Denn das Leben – meines zumindest – ist auf diesen drei Säulen aufgebaut, davon abrücken kommt nicht infrage. Mehr Fisch, Algen und Fermentiertes und insgesamt etwas weniger essen liegt mir da näher als völlig Undenkbares wie Dinner-Cancelling, trockene Monate oder ein radikales Wein-Pasta-Wurst-Verbot. Lieber etwas langsamer und nur zu 80 Prozent vergiften als später brachial entgiften.
Richard Kägi ist Autor und Foodscout, schreibt Kochbücher und Kolumnen. Er plant schon seine nächste Japan-Reise. Seine Rezepte veröffentlicht er auf homemade.ch und richardkaegi.ch. Instagram @richifoodscout.