Transgender ist Trumpf am Filmfestival in Cannes: Der bisher hitverdächtigste Beitrag ist ein Musical über einen mexikanischen Drogenbaron, der eine Frau werden möchte.
Zu den besonders abstrusen Auswüchsen im gegenwärtigen Israel-Hass gehören die queeren Freunde Palästinas. In weiten Teilen der queeren Community macht man sich nicht etwa Sorgen um den nahöstlichen Diversity-Hub Tel Aviv. Sondern man solidarisiert sich ganz uneingeschränkt, geradezu enthusiastisch mit der palästinensischen Seite.
Selbst für die Terroristen der Hamas haben die «Queers for Palestine», und wie sie sich nennen, oft mehr übrig als für Israel. Dabei dürfte jedem offen homosexuell lebenden oder auch nonbinären Menschen klar sein, dass er in den palästinensischen Gebieten nicht gern gesehen wäre. Wahrscheinlich würde er kaum einen Tag überleben.
Von einem queeren Mann, den die Islamisten von einem Dach in den Tod gestossen haben, erzählt eine palästinensische Transperson in Yolande Zaubermans Dokumentarfilm «La Belle de Gaza». Auch ein transsexueller Junge, dem der Kopf abschnitten wurde, ist Thema. Oder eine Transprotagonistin schildert, wie sie entführt und misshandelt wurde.
Dann habe man sie vor dem israelischen Checkpoint ausgesetzt und gezwungen, wie eine Terroristin in Richtung der israelischen Soldaten zu rennen. Die Absicht der Islamisten war, dass die Soldaten sie erschiessen würden. Denn so wären die Israeli die Bösen, erklärt die Transfrau. Und sie fügt hinzu: «Als ich danach meine Mutter anrief, sagte diese: ‹Ich wünschte, sie hätten dich erschossen.›»
Keine Israel-Verklärung
Es sind drastische Erzählungen. Aber gleichzeitig auch nur Randbemerkungen im Film der französischen Filmemacherin Yolande Zauberman. Denn «La Belle de Gaza» zielt nicht auf ein politisches Statement ab. Zaubermans Dokumentarfilm, der in Cannes ausser Konkurrenz gezeigt wurde, spürt nach Israel geflohenen Transfrauen nach. Er interessiert sich für diese Menschen – und nicht für die, die sie hassen.
Dass queere Menschen in den palästinensischen Gebieten das Schrecklichste durchmachen, braucht Zauberman nicht auszubuchstabieren. Sie instrumentalisiert nichts, sie ist auch keine Israel-Verklärerin. In der Hatnufa-Strasse in Tel Aviv arbeiten die meisten der porträtierten Personen auf dem Strich. Es sind unwürdige Zustände, Zauberman beschönigt es ebenso wenig. Und findet gleichwohl Schönheit mit ihrer immer nahe auf die Gesichter draufhaltenden Kamera.
«Die Schöne von Gaza» – so nennt Zauberman eine Transfrau, nach der sie sucht, seit sie vor einigen Jahren in Israel ihren Film «M» (2018) drehte. Zufällig hat Zauberman damals eine Transsexuelle gefilmt. Später erfuhr sie, dass die Frau aus Gaza gekommen sei. Unter Prostituierten erzählte man sich, dass sie die siebzig Kilometer bis nach Tel Aviv zu Fuss zurückgelegt habe. Zauberman liess ihr Schicksal nicht los.
«La Belle de Gaza» ist lange vor dem 7. Oktober entstanden. Es ist ein auf kluge Art zurückhaltend montierter, assoziativer Film, der sich kaum vereinnahmen lässt. Dem Festival muss er gelegen gekommen sein. Denn israelische Filme wollte man, wieso auch immer, offensichtlich keine zeigen.
Aber mit der französischen Produktion kann man sich nun der eigenen politischen Relevanz versichern. Gleichzeitig riskiert man keinen Aufruhr. Selbst wenn der Film kein schönes Licht wirft auf die «Freunde in Palästina»: Gegen palästinensische Transpersonen kann noch der verbohrteste Israel-Hasser schlecht protestieren.
Transsexueller jiddischer Pop-Star
Nicht nur israelische, auch jüdische Geschichten sind an diesem Festival gut versteckt, macht es den Eindruck. Immerhin im Freiluftkino «Cinéma de la Plage», wo das normalsterbliche Publikum sich im Liegestuhl im Sand jenseits von allem Gala-Gedöns Filme anschauen kann, stiess man auf «Transmitzvah» aus Argentinien: Die Komödie handelt von einem jüdischen Jungen, der sich gerne als Mädchen kleidet und sich weigert, Bar-Mizwa zu machen.
Später nennt er sich Mumy Singer und startet als transsexueller jiddischer Pop-Star durch. Doch dann stirbt der Vater, Mumy verliert ihre Stimme. Und sie glaubt, dass sie die Bar-Mizwa nachholen müsse, um wieder singen zu können. «Transmitzvah» von Daniel Burman ist ein sympathischer, harmloser Publikumsfilm. Er fiele nicht weiter auf, wenn er mit seiner jüdischen Thematik nicht so einsam in der Landschaft an der Côte d’Azur stünde.
Aber vielleicht versteckt sich dahinter noch eine andere Erkenntnis: Erbauliche Trans-Geschichten ziehen. Denn der erste Film, der an diesem bisher etwas verhaltenen 76. Filmfestival von Cannes für breitenwirksames Verzücken sorgte, ist ein Trans-Musical.
Ein Trans-Gangster-Musical, um genau zu sein: In «Emilia Pérez» erzählt der französische Meister Jacques Audiard («Un prophète») von einem mexikanischen Drogenboss (Édgar Ramírez), der eine Frau werden möchte. Aber eine Geschlechtsumwandlung geht nicht so einfach in seiner Position.
Geschlechts- und Mentalitätswandel
Der Eingriff hat im Geheimen zu geschehen. Danach wird der Drogenbaron abtauchen müssen. Er holt sich eine kluge, vom korrumpierten Justizsystem desillusionierte Anwältin (Zoe Saldaña), die ihm einen Arzt finden soll.
Die Anwältin will keinem Verbrecher helfen. Aber sie glaubt, dass jeder sein soll, wie er sein möchte. Denn den Körper zu verändern, verändere die Gesellschaft. «Changing your body means changing society», singt sie.
Audiard wirbelt einen durch das Musical, dass man sich seiner Wucht schwer entziehen kann. Auch wenn es nach einer etwas läppischen woken Identitätsfabel klingt: Der Drogenbaron macht nicht nur eine Geschlechtsumwandlung durch, sondern auch einen Mentalitätswandel. Er beginnt, sich mit seinen Verbrechen auseinanderzusetzen. Trans hilft. Interessant am Rande: Der Arzt, den die Anwältin nach längerer Suche findet, der Arzt also, der den besseren Menschen macht: Sie findet ihn in Israel.