Ein geplantes Gesetz des russischen Verteidigungsministeriums könnte in der Ostsee zu Konflikten führen.
Die Nachricht aus Moskau kommt mitten in der Nacht. Der Kreml habe beschlossen, die russischen Hoheitsgewässer in der Ostsee zu erweitern, schreibt die «Moscow Times». Es gehe um Gebiete bei Kaliningrad unweit der litauischen Grenze sowie im Finnischen Meerbusen. Die Zeitung beruft sich auf einen Gesetzesentwurf des russischen Verteidigungsministeriums.
Putin will die Grenzen in der Ostsee verschieben? Hat er es auf die strategisch wichtige Insel Gotland abgesehen? Sucht er einen Konflikt, wo eigentlich keiner ist? Was bedeutet das? Krieg? In den frühen Morgenstunden am Mittwoch überschlagen sich die Meldungen in den finnischen und litauischen Medien. Befeuert werden sie von führenden Politikern.
Der litauische Aussenminister Gabrielius Landsbergis twittert: «Dies ist eine offensichtliche Eskalation gegenüber der Nato und der EU und muss entsprechend entschieden beantwortet werden.» Präsident Gitanas Nauseda stimmt mit ein: «Berichte über die Absicht Russlands, die Seegrenzen in der Ostsee einseitig neu zu ziehen, sind eine Provokation mit dem Ziel einer Eskalation.»
Vieles deutet darauf hin, dass es sich um eine weitere hybride Attacke Russlands handeln könnte – einen Versuch also, in den Nachbarländern Unsicherheit und Chaos zu stiften. Sollte dies zutreffen, tun Landsbergis und Nauseda genau das, was sich der Kreml erhofft: Sie prophezeien eine Eskalation, wo noch keine ist, und verunsichern damit die eigene Bevölkerung.
Viele seltsame Vorfälle in Nordeuropa
Die Nachricht über die geplanten Grenzverschiebungen passt gut in eine Reihe seltsamer Vorfälle, die sich in den letzten Monaten im Norden Europas ereignet haben. Die Indizien zeigen nach Moskau.
Auf einer der wichtigsten Bahnlinien Schwedens entgleisten im Winter zwei Güterzüge. Die Sicherheitspolizei vermutet dahinter Sabotage. In der estnischen Hauptstadt Tallinn demolierten Unbekannte im Dezember das Auto des Innenministers. Später verhaftete die Polizei zehn Personen, die Verbindungen zum russischen Geheimdienst haben sollen. Die finnische Fluggesellschaft Finnair musste Ende April die Flüge in die estnische Stadt Tartu einstellen, weil immer wieder GPS-Signale gestört wurden. Die Störungen kamen aus Russland.
Die grösste Hybridaktion veranstaltete der Kreml im Winter an der finnischen Ostgrenze. Russische Grenzbeamte karrten Migrantinnen und Migranten in die Grenzzone und schlossen danach die Barriere hinter ihnen. Der einzige Weg für die Menschen ohne Reisedokumente führte nach Finnland, wo sie ein Asylgesuch stellen mussten. Die finnischen Behörden gehen davon aus, dass auf diesem Weg auch Kriegsverbrecher ins Land gelangt sind.
Die Aktion konnte erst beendet werden, als Finnland die Grenze Anfang Dezember komplett geschlossen hat. Die Regierung hat dem Parlament am Dienstag einen Gesetzesentwurf übergeben, der Pushbacks legalisieren soll. Das Gesetz widerspricht nicht nur internationalem Recht, sondern verstösst auch gegen die finnische Verfassung. Dass die Regierung es trotzdem verabschieden will, zeigt, wie schwierig das Nebeneinander mit einem Nachbarn ist, der sich skrupellos über Recht und Moral hinwegsetzt. Mit rechtsstaatlichen Mitteln kommt man dagegen nur schwer an.
Absicht des Kremls bleibt unklar
Die hybriden Attacken mögen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben – aber man muss sie im Zusammenhang sehen. Und man muss sie ernst nehmen. Bei Putin weiss man nie, woran man ist. Naivität und Blauäugigkeit können fatale Folgen haben. In Alarmismus zu verfallen oder Angst zu zeigen, ist jedoch genauso gefährlich.
Genau davor warnte auch die finnische Aussenministerin Elina Valtonen am Mittwoch an einer Medienkonferenz. Russland hat weder Finnland noch Litauen offiziell in der Angelegenheit kontaktiert. Auch die Regierungen stützen sich also bis jetzt auf Informationen aus zweiter Hand. «Wir sollten die Sache nicht grösser machen, als sie vielleicht ist. Denn wenn wir das tun, spielen wir dem östlichen Nachbarn womöglich in die Karten.»
Für den im Frühling neu gewählten finnischen Präsidenten Alexander Stubb ist die jüngste Aktion des Kremls eine erste Probe im Umgang mit Putin. Als Präsident hat er bisher Besonnenheit bewiesen. «Auf solche Dinge sollten wir gelassen und ruhig reagieren und nichts überstürzen», sagte er in einem Interview mit der Fernsehanstalt Yle. Womöglich gebe es gar nichts, worauf man reagieren müsse, und wenn doch, dann werde man sich zu gegebener Zeit dazu äussern.
Bis jetzt ist unklar, ob es sich um eine bewusste Provokation handelt. Der Gesetzesentwurf könnte auch aus Versehen publik geworden sein. Oder es handelt sich um einen Routineprozess. Weil sich die Topografie im Verlaufe der Jahre ändert, werden auch Landesgrenzen regelmässig neu justiert. Zwischen Finnland und Russland war das bisher alle 25 Jahre der Fall, zuletzt 2017. Zeitlich fallen die Pläne des Kremls aus dem Rahmen.
Der Pressesprecher Putins, Dmitri Peskow, sagte an einer Medienkonferenz, dass hinter dem Vorhaben nichts Politisches stecke. «Sie sehen, wie Spannungen eskalieren, wie gross die Konfrontation ist, insbesondere im Baltikum. Dies erfordert, dass unsere Behörden geeignete Massnahmen ergreifen, um die Sicherheit zu gewährleisten.» Der Gesetzesentwurf ist inzwischen von der Website der Regierung verschwunden.
Bereits am Donnerstag folgte das nächste seltsame Ereignis: Die russischen Grenzbehörden entfernten Grenzbojen aus dem Narwa-Fluss, der Russland von Estland trennt. Der estnische Aussenminister Margus Tsahkna sprach von einer Provokation.









