Die Steigerung der Lebenserwartung hat paradoxe Folgen: Viele Krankheiten treten häufiger auf, zugleich sinkt das Risiko für den Einzelnen, daran zu erkranken.
Vitaminpillen in hoher Dosis, Kältetherapien und exzessives Krafttraining: Es gibt Fanatiker in der Gesundheitsszene, die alles tun und keine Kosten scheuen, um länger zu leben und fit zu sein. Aber auch wenn man seinen Tagesplan nicht gänzlich auf das Ziel der Langlebigkeit ausrichtet, geht der Trend in diese Richtung: Die weltweite Lebenserwartung steigt weiter an. Sie ist gemäss einer neuen Studie zwischen 1990 und 2021 um 6,2 Jahre gestiegen. Ohne Covid-19 wäre der Anstieg sogar noch um 1,6 Jahre höher ausgefallen.
Zwar hat sich in gewissen Ländern die Steigerung abgeschwächt, oder die Lebenserwartung ist gar gesunken. Dies betrifft Staaten im Kriegszustand oder die USA – etwa wegen der Opioidkrise. Ausserdem bestehen zwischen den einzelnen Ländern wie auch zwischen den Geschlechtern und sozialen Schichten bisweilen grosse Unterschiede.
Als Fazit aber bleibt: «Die Steigerung der Lebenserwartung ist eine grosse Erfolgsgeschichte – und das seit über 200 Jahren», sagt Sebastian Klüsener, Demograf am deutschen Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.
Aber bleiben die Menschen auch länger gesund, wenn sie länger leben? Oder verbringen sie die gewonnene Zeit eher krank? Um das zu beantworten, wird in der Demografieforschung zusätzlich die «gesunde Lebenserwartung» betrachtet. Dazu werden die Menschen befragt, wie sie sich gesundheitlich fühlen und inwiefern sie Aktivitäten des täglichen Lebens selbständig ausüben können.
Länger gesund im Alter
Auch bei dieser gesunden Lebenserwartung sind die Ergebnisse erfreulich: Gemäss einer 2020 veröffentlichten Studie stieg sie zwischen 1995 und 2017 in den meisten der 195 untersuchten Länder und Regionen der Welt an. Laut den Angaben wurde 2017 ein Mensch im globalen Durchschnitt rund 73 Jahre alt und verbrachte davon 63 Jahre bei guter Gesundheit.
«Vor allem in hochentwickelten Ländern ist die gesunde Lebenserwartung sogar noch stärker gestiegen als die Lebenserwartung an sich», sagt der emeritierte Soziologieprofessor und Altersforscher François Höpflinger. Mit anderen Worten: Von den gewonnenen Jahren verbringt man den grösseren Teil bei guter Gesundheit.
Höpflinger erklärt diesen Erfolg mit drei Faktoren: bessere Prävention und bessere medizinische Behandlungen, der Ausbau der Altersvorsorge und ein gesundheitsbewussteres Verhalten insbesondere der älteren Personen.
Allerdings: Mit der steigenden Lebenserwartung ist nicht nur die gesunde Phase, sondern auch die Lebensspanne in Krankheit länger geworden – im weltweiten Schnitt hat sie sich zwischen 1995 und 2017 von 8,6 auf knapp 10 Jahre verlängert.
Das ist zwar weniger erfreulich, allerdings ermöglichen medizinische Fortschritte zunehmend mehr kranken Menschen ein längeres Überleben. Die Zahl der «survivors» diverser Krankheiten nimmt zu. Mit einer Hüftprothese oder Diabetesmedikamenten lässt es sich heute immer länger und bei oft hoher Qualität leben.
All das führt zu einer geradezu paradoxen Situation: Viele Krankheiten treten häufiger auf – und gleichzeitig sinkt das Risiko für den Einzelnen sogar, daran zu erkranken. Beispiel Demenz: Weil mehr Menschen ein hohes Alter erreichen und die Betroffenen länger überleben, steigt die Zahl der Erkrankten. «Die heutige Generation älterer Menschen hat aber ein höheres Bildungsniveau, raucht weniger und bewegt sich mehr – das senkt das Risiko für die einzelne Person, an einer Demenz zu erkranken», sagt François Höpflinger.
Zu grober Raster
Insgesamt leben wir also gemäss der erwähnten Studie mit der steigenden Lebenserwartung länger bei guter, aber auch ein bisschen länger bei schlechter Gesundheit. Aber wie es uns in diesen Phasen genau geht, darüber ist wenig bekannt. «Bei der Krankheitsphase wird in den Erhebungen bis jetzt nicht zwischen leichten und schweren Beeinträchtigungen unterschieden», sagt François Höpflinger.
Dabei mache es einen grossen Unterschied, ob ich mit dem Rollator noch selbständig einkaufen gehen könne oder aber bettlägerig sei. Der Altersforscher vermutet: Die Phase schwerer Beeinträchtigung im Leben wird im Durchschnitt kürzer, die Phase der leichten Beeinträchtigung etwas länger.
Was also unter «gesund» zu verstehen ist, ist nicht so klar, wie es scheint. Auch Sebastian Klüsener vom deutschen Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hat Vorbehalte gegenüber dem Konzept der gesunden Lebenserwartung. Ob die Menschen in Umfragen allgemein nach ihrer subjektiven Gesundheit oder nach alltäglichen Einschränkungen gefragt würden, ergebe verschiedene Resultate. Zudem änderten Staaten bisweilen die Messmethode, schlicht um bessere Resultate vorweisen zu können.
Deshalb ist für Klüsener die allgemeine Lebenserwartung die aussagekräftigste Zahl: «Sie erlaubt durchaus Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand. Steigt sie an, ist es meistens auch so, dass sich die Gesundheit der Bevölkerung tatsächlich verbessert.» So liessen sich Auswirkungen von Pandemien ebenso an der Entwicklung der allgemeinen Lebenserwartung ablesen wie Verbesserungen in der Medizin.
Vom Rauchen zum Übergewicht
Und was bringt die Zukunft? Höpflinger wie Klüsener rechnen damit, dass die Lebenserwartung weiter steigen wird. Wie stark, sei schwer zu beziffern. Das liegt auch an gegensätzlichen Trends: Klüsener rechnet damit, dass zumindest in den entwickelten Ländern immer weniger Menschen rauchen und an den Folgen des Tabakkonsums sterben werden. Gleichzeitig würden Übergewicht und Folgekrankheiten wie Diabetes Typ 2 die Lebensdauer vermehrt begrenzen. Eine Opioidkrise wie in den USA könnte zudem auch in Europa die Lebenserwartung sinken lassen.
Klar ist für ihn: «Wenn es uns gelingt, weitere Fortschritte insbesondere bei Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erreichen, ist es durchaus möglich, die Lebenserwartung in Europa auf 90 Jahre zu erhöhen.» Um aber in noch höhere Sphären zu gelangen, brauchte es gemäss Klüsener medizinischen Fortschritt, der die Grenzen des Körpers überwindet. Dazu könnte gehören, eine gealterte Niere oder Leber durch ein neues Organ zu ersetzen.
Lebensstil entscheidet
Noch ist gemäss Klüsener der Lebensstil der entscheidende Faktor. Das ist auch im Hinblick auf die Entwicklung der Gesundheitskosten ein zentraler Aspekt. «Die Gesundheitskosten steigen nicht parallel zur Lebenserwartung», sagt François Höpflinger. In den USA etwa stiegen die Kosten, während die Lebenserwartung sinke. In der Schweiz steige beides. Frankreich und Spanien erreichen laut Höpflinger eine vergleichbare Lebenserwartung wie die Schweiz, aber bei deutlich geringeren Kosten.
Ein Irrtum ist es gemäss Höpflinger, zu glauben, die Gesundheitskosten sänken automatisch, wenn es gelinge, die gesunde Lebensphase zu verlängern. Auch dies sei nicht kostenlos zu haben. Denn nur dank Blutdrucksenkern und anderen Behandlungen können sich viele Menschen heute als gesund bezeichnen. Ausserdem steigen mit der demografischen Entwicklung in Richtung einer älteren Gesellschaft die Kosten ohnehin weiter: «Wenn wir die gesunde Lebenserwartung verlängern, können wir den Effekt immerhin etwas abbremsen», sagt Höpflinger.
Gleichzeitig müsse man das Gesundheitswesen weiter verbessern, durch vermehrte Prävention sowie beispielsweise die digitale Krankenakte, um Doppelspurigkeiten bei der Diagnostik und Behandlung zu verhindern, sagt Klüsener. Und die beiden Demografen sind sich einig: Zentral sei die Frage, wie viel uns ein langes Leben wert sei. Die kostengünstigste Art, gesund zu bleiben, liege dabei in unseren Händen – bei einem guten Gesundheitsverhalten.
Schweiz und Deutschland im Vergleich
Die Lebenserwartung in der Schweiz liegt gemäss Bundesamt für Statistik für Frauen bei 85,9 und für Männer bei 82,3 Jahren. Die Schweiz liegt damit weltweit auf einem Spitzenplatz. In Deutschland beträgt die Lebenserwartung 78,3 Jahre für Männer und 83,2 Jahre für Frauen. Das Land befindet sich damit in Westeuropa auf den letzten Plätzen.
Gemäss einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung schneidet Deutschland vor allem bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen schlechter ab als die Schweiz. Der Demograf Sebastian Klüsener sieht mehrere Gründe: Prävention und Früherkennung seien in Deutschland weniger ausgebaut. Gleichzeitig komme der Eigenverantwortung in der Schweiz ein höherer Stellenwert zu.
Auch könnte eine Rolle spielen, dass die Struktur der Zugewanderten unterschiedlich sei. So habe die Schweiz viel Zuwanderung aus Ländern wie Deutschland, Frankreich und Italien, die selbst eine relativ hohe Lebenserwartung aufweisen. Deutschland hingegen habe deutlich mehr Zugewanderte aus Ländern mit niedrigerer Lebenserwartung wie der Türkei, Polen und Russland.
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