Die Katastrophe von Cevio und Lavizzara hat die Schweiz im Frühsommer aufgewühlt. Die Gemeinden erwarteten grosszügige staatliche Hilfe. Aber nun bangen sie um die Zukunft.
Erdrutsche, Hochwasser und Gerölllawinen. In der Nacht vom vergangenen 29. auf den 30. Juni rauschen und donnern sie durch das obere Maggiatal. Sie zerstören in Cevio und Lavizzara Brücken und Strassen, Häuser und Leben. Die Gewalt der Natur meisselt an den Dörfern, baut sie um – grob, unerwartet, mit jahrelangen Folgen. Sieben Personen kommen um, eine wird noch heute vermisst.
Fünf Monate danach kehrt am kommenden Samstag ein kleines Stück Normalität ein. Lavizzara eröffnet eine Kunsteisbahn, «ein kleines Provisorium», sagt der Gemeindepräsident Gabriele Dazio. Das einstige Sportzentrum gibt es nicht mehr. Vom ihm blieb nur ein Teil des Dachs schepp stehen. Alles andere rissen die Gesteinsmassen mit sich.
Die provisorische Eisbahn soll nun ein wenig Kontinuität ins sportliche und soziale Leben zurückbringen, sagt Dazio. «Sie ist ein erster Ausgangspunkt für einen Neuanfang.» Wann und wo es einen definitiven Neubau geben werde, sei noch ungewiss – wie so vieles im Tal. Ein Grund dafür liege beim Bund. Dazio sagt es unumwunden: «Wir fühlen uns alleingelassen.»
Anders als in Spanien
Als Ende Oktober eine Flutkatastrophe die Region Valencia traf, herrschte eine Woche danach Klarheit über die Hilfsgelder. Die spanische Regierung sicherte den Betroffenen bereits Milliardenbeträge zu. Im Tessin schweben die Menschen noch Monate nach den Unwettern in Ungewissheit. «Wir stehen vor der Leere, was das Finanzielle angeht», so Dazio.
Wie viel Geld wird der Bund sprechen? Das ist unklar. Und ohne dieses Wissen sei es schwierig, den Wiederaufbau zu planen. Mehr noch: Die ersten Signale des Bundes beunruhigen das Tessin.
Im Sommer waren auch das Wallis und Graubünden von Unwettern betroffen. Zusammen mit ihnen stellte das Tessin im Juli eine erste Anfrage an den Bund. Später doppelte der Tessiner Staatsrat mit einem zweiten Schreiben nach. In beiden Fällen habe die Antwort des Bundes die Behörden «versteinert zurückgelassen». Das schreiben Dazio und Cevios Gemeindepräsidentin Wanda Dadò in einem weiteren Brief, den sie am Montag dem Bundesrat übermittelt haben und der der NZZ vorliegt.
Gnadenstoss für kleine Bergdörfer
Sie beklagen darin die fehlende staatliche Unterstützung. Denn die ersten Signale seien die: Der Bund wolle ausschliesslich für die Korrektur von Flussläufen und für die Aufforstung von Wäldern aufkommen – und dies nur zu den gesetzlich vorgegebenen 35 Prozent der Gesamtkosten. Das seien rund 21 Millionen Franken. Die Gesamtschäden belaufen sich im Tessin allerdings auf gut 100 Millionen. Es geht um Strassen, Brücken, Wasserleitungen, andere Infrastruktur.
Ein grosser Teil dieser Kosten würde Stand jetzt in Millionenhöhe auf den Gemeinden lasten, auf kleinen Bergdörfern. Lavizzara hat keine 600 Einwohner, Cevio knapp 1200. «Solche Beträge würden uns in die Knie zwingen», befürchtet Dazio.
Offenbar stuft der Bund das Naturereignis als ein ordentliches ein. Das Tessin wertet es allerdings anders. Das zuständige Bundesamt für Umwelt konnte am Dienstag auf Anfrage nicht Stellung zum Thema beziehen. Mit dem Brief wollen die Gemeinden die Regierung dazu anregen, die Lage neu zu beurteilen. Dazio hofft auf Beträge, «die unserem Drama entsprechen».
Kurz nach der Katastrophe besuchten Bundesräte die Unglücksorte und erlebten die Verwüstung mit. Ein Tessiner Kantonsrat sagte damals, was wohl hierzulande viele denken: «Wir sind in der Schweiz. Ihr könnt sicher sein, dass die Fonds für den Wiederaufbau eintreffen werden.» Auch Dazio dachte so. Geld werde zweitrangig sein. Er hoffte auf die schnelle Zusage von klar definierten Beträgen, von Hilfen à fonds perdu des Bundes. Menschlich habe das Unwetter die Bevölkerung bereits stark berührt. «Dass wir uns nun auch finanzielle Sorgen machen müssen, hätten wir nicht erwartet.»
Erst 1 Million von der Banca Stato
Erhalten haben die Gemeinden bisher erst ein Darlehen über 1 Million Franken von der Banca Stato, der Tessiner Kantonalbank. Es flossen Gelder von Organisationen und privaten Spenden. Vom Bund kam bisher Hilfe von der Armee etwa beim Bau der provisorischen Brücke in Lavizzara. Zusätzliche Gelder sind erst bei konkreten Plänen für Neubauten zu beantragen. Aber wie planen, wenn unklar ist, wie viel dann wirklich gedeckt ist? Das ist die grosse Frage der Gemeinden.
Im Unglück manifestiert sich konzentriert, was Menschen in den Randregionen latent spüren. Dazio sagt es so: «Es wird immer von Unterstützung geredet, aber es ist dann trotzdem nicht so.»
Im Brief an den Bundesrat beklagen die Gemeinden auch allgemeinere Probleme. Das Tessin sei ohnehin benachteiligt durch den nationalen Finanzausgleich. Das führt auch der Tessiner Regierungspräsident Christian Vitta (FDP) im Gespräch mit der NZZ an. Er bemängelt, dass im kommenden Jahr das Tessin deutlich weniger als andere alpine Kantone aus dem Topf des Finanzausgleichs erhalten werde. Seinen 100 Millionen stehen 226 Millionen für das Wallis, 900 Millionen für Graubünden und 1,4 Milliarden für den Kanton Bern gegenüber.
Grund für diese Ungleichheit sind einerseits die Steuereinnahmen durch Grenzgänger. Vitta merkt allerdings an, dass diese kaum Geld im Tessin, sondern an ihren Wohnorten in Italien ausgäben. Ein anderer Grund ist die Berechnung der geografisch-topografischen Belastung. Kantone mit durchschnittlich höherer Lage erhalten mehr Geld als das Tessin, das mit Ascona auch den am tiefsten gelegenen Ort der Schweiz bei sich weiss. Vitta sagt: «Dieses System benachteiligt uns.» Finanziell habe das Tessin bereits Mühe. Nach der Katastrophe umso mehr.