Ein Film über die Geschichten von Olympia-Sportlerinnen und -Sportlern, die nicht mehr für ihr Heimatland antreten können.
An einem Tag im Januar vor fünf Jahren hat Kimia Alizadeh alles riskiert und vieles verloren. Auf Instagram schrieb sie: «Ich bin eine von Millionen unterdrückter Frauen in Iran.» Jahrelang habe sie jeden Satz wiederholt, den man ihr befohlen habe. Sie sei benutzt worden. Und sie weigere sich, länger Teil der Heuchelei, der Lügen und der Ungerechtigkeit zu sein.
Alizadeh ist Profisportlerin und holte 2016 Bronze für ihr Heimatland im Kampfsport Taekwondo. Es war das erste Mal, dass eine Iranerin eine Medaille gewann. Von der Regierung wurde sie bejubelt, als Beispiel einer erfolgreichen iranischen Frau vorgezeigt. Doch Alizadeh wollte nicht feiern. Dreieinhalb Jahre nach ihrem Bronzemedaillen-Sieg floh sie nach Deutschland. Sie wurde vom iranischen Nationalstolz zur Verräterin. Und musste neu anfangen.
Alizadehs Neubeginn hat eine Frau filmisch eingefangen, die sich ebenfalls gegen ein Regime gestellt hat. Nicht gegen den Iran, sondern gegen Syrien. Waad al-Kateab ist Dokumentarfilmerin. Sie gehörte zu den letzten, die während des Kriegs in Syrien die Stadt Aleppo verliessen. Im Gespräch in Zürich sagt sie über Alizadehs Post: «Es war, als würde ich meine eigenen Gedanken und Gefühle lesen.»
Kateab hat jahrelang Widerstand geleistet. In ihrem 2019 erschienenen Film «For Sama» dokumentierte sie, wie sie, ihr Mann und ihre Freunde während des Kriegs in Syrien ein Spital betrieben. Die Verletzten pflegten, die Toten in Tücher wickelten. Kurz vor der Belagerung kam ihre Tochter Sama zur Welt. Die Aufnahmen zeigen, wie Gebäude einstürzten, Bomben krachten, wie Menschen schrien und Kinder bluteten. Aber auch lachten, scherzten, in Pfützen hüpften, sich in den Arm nahmen. Kateab sagt, sie sei zu dieser Zeit die letzte in Syrien lebende Dokumentarfilmerin gewesen.
«Ich hatte eine andere Sicht auf die Dinge in Syrien. Weil das Land mein Zuhause ist. Aber auch, weil ich eine Frau bin», sagt sie. Der Film hat 71 Preise gewonnen und wurde für einen Oscar nominiert.
In Kateabs zweitem Film «We Dare to Dream» geht es nicht mehr um ihren eigenen Widerstand. Sondern um denjenigen anderer. Und die Frage, was danach kommt.
Vom Flüchtlingscamp in Kenya an die Olympischen Spiele in Tokio
In «We Dare to Dream» erzählt Kateab die Schicksale von fünf Athleten und Athletinnen, die mit ihrem Heimatland gebrochen haben und an den Olympischen Spielen in Tokio 2020 für das Flüchtlingsteam antreten. Unter ihnen ist auch die iranische Taekwondo-Kämpferin Kimia Alizadeh. Bei ihnen allen kam irgendwann ein Moment, in dem sie «Nein» sagten. Indem sie sich wehrten gegen die Zustände in ihrem Heimatland.
Doch Kateab zeigt mit dem Film auch: Jede Geschichte einer Person, die flüchten muss, ist anders. «Von aussen werden wir Geflüchtete häufig in eine Rolle gedrängt. Wir sind dann die Helden. Die Schurken. Die Opfer. Dabei sind wir einfach Menschen.»
Der 2023 veröffentlichte Film wurde Ende März in Zürich gezeigt, an einer Konferenz, die vom Circle of Young Humanitarians organisiert worden war. Das ist eine Organisation, die junge Menschen und humanitäre Organisationen zusammenbringt. Kateab ist dafür aus London angereist, wo sie heute wohnt und arbeitet.
Für den Film begleitete Kateab nicht nur Kimia Alizadeh aus Iran. Sie besuchte einen jungen Taekwondo-Kämpfer aus Syrien, der in einem Camp in Jordanien an verstaubten Gleisen entlang joggt. Oder eine Läuferin aus dem Südsudan, die im Flüchtlingscamp in Kenya ihre Bahnen rennt und ihr Kleinkind ihrer Schwester übergeben hat, um trainieren zu können.
An diese Orte zu reisen, war schwierig. Waad al-Kateab hat keinen britischen Pass. Mit dem Flüchtlingsstatus kriegt sie oftmals kein Visum.
Die Brutalität aus der Nähe
Im Film geht es nicht nur um die Geschichten der Einzelnen. Sondern auch um die Beziehungen zwischen ihnen und Waad al-Kateab. Denn Kateab ist in jeder Szene spür-, manchmal auch hörbar. Die Geschichten der Athleten und Kateabs Leben verfliessen ineinander, die Grenze zwischen vor und hinter der Kamera verwischt.
Kateab hält die Kamera oft ganz nah drauf, auch – oder gerade auch – dann, wenn es weh tut. Kimia Alizadeh schluchzt, als sie den Kampf um die Bronzemedaille 2020 verliert. Sie erzählt, sie habe sich eine Stunde lang übergeben müssen, nachdem ihr ein iranischer Landesvertreter ins Ohr geflüstert habe, dass sie ihr Land verraten habe.
Kateab sagt, sie habe sich zu Beginn ihres zweiten Films vorgenommen, zehn Schritte zurückzutreten. Sie wollte die Geschichten der Athleten und Athletinnen aus der professionellen Distanz erzählen. «Ich merkte schnell, dass ich scheiterte.» Stattdessen tröstete sie die Teammitglieder, beruhigte sie, redete ihnen Mut zu. Sie habe sich gefühlt wie eine Freundin, eine Schwester, eine Mutter.
Als den Kanu-Athleten Saeid Fazloula die Selbstzweifel packten und er befürchtete, er werde als Flüchtling nicht ernst genommen, sagte sie ihm: «Keiner dieser Männer hat das durchgemacht, was du durchmachen musstest.»
Die Aufnahmen zeigen eine Nähe, wie man sie von Videos aus den Familienferien kennt. Sie sind manchmal verwackelt und spontan, sehen aus wie bewegte Schnappschüsse. Waad al-Kateabs Stil ist unmittelbar. Ihre ersten Aufnahmen in Aleppo machte sie mit ihrem Handy, später mit ihrer Digitalkamera. Ihr Sujet sind ihre Freunde, ist ihr Mann, ist ihre kleine Tochter, ist sie selbst. Das macht die Filme so intim und die Greuel, in welche die Menschen hineingerissen werden, so gnadenlos.
Kein Preisgeld und keine Perspektive
Im Film über die Athleten und Athletinnen wird immer wieder klar: Die Mitglieder des Flüchtlingsteams sind die Aussenseiter bei den Wettkämpfen. Sie teilen Leidenschaft und Talent mit den Profisportlern der Länderteams, ihre Hoffnungen und Ängste ähneln sich. Doch sie starten von ganz unten.
Kimias Alizadehs Konkurrentin aus Grossbritannien wurde von einer internationalen Sportmarke gesponsert, sie erhielt staatliche Fördergelder. Alizadeh bekam als Mitglied des Flüchtlingsteams 1500 Dollar im Monat. Das musste reichen für sie selbst und ihre Trainerin.
Das olympische Flüchtlingsteam gibt es seit 2016. In diesem Jahr gründete das Internationale Olympische Komitee die olympische Flüchtlingsstiftung, die 70 ausgewählten Athletinnen und Athleten monatlich einen Betrag an Training und Lebensunterhalt bezahlt.
Das Team gab den Flüchtlingen Sichtbarkeit und eine Chance, ihren Traum unter anderer Flagge weiterzuverfolgen. Und für die vielen Menschen anzutreten, die weltweit auf der Flucht sind.
Dem «Time»-Magazin jedoch erzählten zwei ehemalige Mitglieder des Flüchtlingsteams, die in einem Camp in Kenya trainiert hatten: Sie seien gegenüber den Athletinnen und Athleten der Länderteams nicht gleichgestellt gewesen. Sie hätten weder Preisgeld noch eine ernsthafte Perspektive bekommen. Man habe ihnen zu spüren gegeben: Sie könnten einfach froh sein, dabei zu sein.
Der Fokus liegt auf den Gemeinsamkeiten
Kateab sagt, die Teammitglieder hätten nur wenig Unterstützung bekommen, als sie wegen eines Corona-Falls in ihrer Zwischenstation in Doha festgesteckt seien. Sie mussten mehrere Tage ausharren, hatten kein Equipment, konnten nicht trainieren. «Ich glaube, das Refugee-Team stand vor so vielen Herausforderungen, die das olympische Komitee nicht wirklich bewältigen konnte.» Aber dass es das Team überhaupt gebe, sei bereits eine Leistung.
Für die Mitglieder des Flüchtlingsteams ist eine Frage allgegenwärtig: Was kommt nach den Wettkämpfen? Sie wollen eingebürgert werden, ein neues Leben starten, wieder unter einer Landesflagge antreten. Kimia Alizadeh hat inzwischen die bulgarische Staatsbürgerschaft. An den Olympischen Sommerspielen in Paris holte sie für ihr neues Heimatland die Bronzemedaille.
Die Olympischen Spiele waren 1896 einst gestartet, um die Nationen zu vereinen und die Distanzen zu verringern. Um den Fokus nicht auf die Unterschiede zwischen den Menschen zu lenken, sondern auf die Gemeinsamkeiten.
Kateab macht in ihren Filmen genau das. Wenn sie filmt, wie die Athletinnen von ihren Freunden zu Hause angefeuert werden und sie zusammen mit ihren Trainern scherzen. Wenn sie filmt, wie ihr Mann ihrer Tochter vorsingt, wenn draussen die Bomben fallen. Wie ein Freund seiner Frau eine Kaki schenkt, die er auftreiben konnte. Und danach mit den Kindern einen zerbombten Bus anmalt. Dann fängt sie die Alltäglichkeit des Lebens ein, die kleinen Momente zwischen dem Horror, den man in den Nachrichten sieht.
Es sind Momente der Menschlichkeit.