Fortschritt war das grosse Versprechen der Moderne. Angesichts von Krieg, Rezession und Klimawandel hat es seine Kraft verloren. Der Soziologe Andreas Reckwitz fragt, was das bedeutet.
Terrorismus, Pandemie, Klimawandel und Krieg: Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts mehren sich gesellschaftliche Krisen mit globalen Folgen. Dabei handelt es sich nicht um Rückschläge, die von kurzer Dauer und schnell überwunden sind, sondern um tiefe Einschnitte und Wunden, die nicht heilen wollen. Mit der Häufung negativer Ereignisse wächst das Bewusstsein für womöglich unwiederbringliche Verluste.
Diesem «Grundproblem der Moderne», so der Untertitel seines Buchs, widmet sich Andreas Reckwitz in «Verlust». Der Professor für allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin legt eine analytisch präzise, weit in die Geschichte zurückgreifende Soziologie des Verlustes vor, die auch Positionen der Philosophie und Religion integriert. Es ist die erste umfassende Studie zu diesem Thema.
An zentraler Stelle seiner Argumentation führt Reckwitz aus, dass das Christentum auf einer «anthropologischen Verlustgeschichte» beruht, nämlich dem Sündenfall und der darauffolgenden Vertreibung aus dem Paradies. Dass es nicht beim Verlust bleibt, dafür sorgt das Versprechen vom künftigen Anbruch des Reiches Gottes. Diese Einbettung in eine Heilsgeschichte ist sowohl für das christliche Weltbild als auch für dessen jahrhundertelange Rezeption bedeutsam.
Grenzen des Wachstums
Solche Versprechen spielen eine sinnstiftende Rolle auch bei säkularisierten Weltbildern: Der Übergang von der Gegenwart in die Zukunft verdankt sich dabei nicht göttlicher Vorsehung, sondern gesellschaftlicher Selbstformung. Im Kern ist jeder Fortschrittsglaube, wie der Begriff schon nahelegt, religiös grundiert und motiviert. «In der westlichen Moderne tritt das Fortschrittsnarrativ diskurslogisch an die Stelle des christlichen Glaubens.»
In der Spätmoderne, deren Beginn Reckwitz in den 1970er Jahren ansetzt, als die Grenzen des Wachstums breit diskutiert wurden, treten Krisen weltweiten Ausmasses vermehrt auf. Die Strategie, sie als blosse Aussetzer im Prozess der Zivilisation zu verstehen oder gar zu verdrängen, verfängt nicht mehr: Die Idee eines stetigen Fortschritts vermag die negativen Erfahrungen nicht zu neutralisieren.
Damit gerät der Glaube an die Technik, diesen Grundpfeiler der Moderne, ins Wanken. Was früher plan- und machbar war, entgleitet zusehends – und damit verlieren wir eine Zukunft, die mehr und Besseres verheisst als die Gegenwart. «Da das Fortschrittsversprechen in der Spätmoderne an Glaubwürdigkeit einbüsst, kommt den Verlusterfahrungen ihr geschichtsphilosophischer Schutzschild abhanden», schreibt Andreas Reckwitz.
Trost und Vertröstung
In der «Sattelzeit» zwischen 1750 und 1850 wurden, so der Autor in Anlehnung an den Historiker Reinhart Koselleck, zukunftsorientierte Bewegungsbegriffe zu Leitvorstellungen der jungen Moderne. Das geschichtsphilosophische Modell, an dem sich in der Folge ganze Generationen von Denkern und Ökonomen inspirierten, lieferte Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Geschichte schreitet in einem dialektischen Prozess zielstrebig ihrem Ende entgegen.
Nicht alles, was verschwindet, wird als Verlust wahrgenommen. Erst wenn das Verschwinden bemerkt und negativ bewertet wird, handelt es sich um einen Verlust. Diese Negativität ist zentral für das Verständnis von Verlusten. Nun wird man einwenden, dass es schon früher solch negative Erfahrungen gab. Andreas Reckwitz streitet dies nicht ab, weist aber darauf hin, dass diese besser abgefedert wurden: In einer religiös geprägten Welt konnten auch Verluste sinnstiftend verarbeitet werden, und über allem stand die Vertröstung auf das künftige Paradies. Das kanalisierte den individuellen, aber auch den kollektiven Schmerz. Es wurde verhindert, dass die Wucht der Verlusterfahrung zu einem Trauma führte.
In der Spätmoderne dagegen erodieren die Vorstellungen von Trost und Hoffnung, die das Kollektiv entzücken und das Individuum beruhigen. Während bei Jean-François Lyotard vom «Ende der grossen Erzählungen» die Rede ist, konstatiert Jürgen Habermas eine «Erschöpfung der utopischen Energien». Dystopien ersetzen die Utopien und nehmen einen prominenten Platz in der Produktion der Kulturindustrie ein: Das Ende der Welt flimmert millionenfach über die Leinwände und bereichert die Literatur.
Anerkennung als Opfer
Nun sind spätmoderne Gesellschaften nicht nur mangels Zukunftsperspektiven sensibler gegenüber Verlusterfahrungen und bleibenden Schäden. Zwei weitere Faktoren tragen dazu bei: Einerseits sind alternde Gesellschaften verlustaffiner und mit dem Tod, dieser paradigmatischen Verlusterfahrung, vertrauter als junge, die mit der Selbstbehauptung und Selbstbestätigung beschäftigt sind.
Andererseits ist das von Kollektiverwartungen weitgehend freigesetzte Subjekt offener für Verletzungen und Kränkungen. Da die erlittenen Verluste von der Gesellschaft anerkannt werden wollen, kommt es vermehrt zu Opferidentitäten. Auch die in jüngster Zeit in Teilen der westlichen Welt entstandene Kultur des Verzichts, diese asketische Form der Zukunftssorge, kommt einer vorbeugenden Massnahme gegen die allgegenwärtigen Verlusterfahrungen gleich.
Dies alles sind für Andreas Reckwitz eindeutige Indizien dafür, dass wir es heute mit einer regelrechten «Verlusteskalation» zu tun haben, die den Fortschrittsimperativ, dieses Strukturmerkmal moderner Gesellschaften, grundsätzlich infrage stellt. Anstatt weiterhin auf eine «Verlustreduktion» oder sogar «Verlustfreiheit» hinzuarbeiten, rät der Autor zu einem offensiven Umgang mit der Negativität, um einen Weg in die Zukunft zu finden.
Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 463 S., Fr. 46.90.