Der Schweizer Theaterregisseur zeigt im Zürcher Schiffbau sein Stück «Familie», das an den authentischen Fall eines kollektiven Suizids angelehnt ist. Das Schauspiel von Vater, Mutter und zwei Töchtern offenbart aber vertraute Abgründe familiärer Intimität.
Alle vier tot! Im September 2007 entdeckt die Feuerwehr in einem Haus in der Nähe von Calais die Leichname der Familie Demeester. Die Eltern, der Sohn und die Tochter haben sich erhängt. Hinweise auf die äussere Einwirkung von Gewalt oder ein Tatmotiv gibt es nicht. Hinterlassen haben die Demeesters lediglich eine Nachricht darüber, wer sich künftig um ihren Hund kümmern soll. Und einen kurzen Kommentar: «Wir haben es vermasselt, sorry!»
Den Fall Demeester hat Milo Rau in seinem Stück «Familie» aufgegriffen, das er vor vier Jahren am Stadttheater Gent inszenierte. Am Freitagabend feierte die Produktion, die auch an mehreren deutschen Theatern gezeigt worden ist, Schweizer Premiere im Schiffbau.
Rau hat für «Familie» mit der Schauspielerin An Miller, dem Schauspieler Filip Peeters und ihren Teenager-Töchtern Leonce und Louisa zusammengearbeitet, die selbst im realen Leben eine Familie bilden. Auf der Bühne aber sollen sie sich in die Rolle der Demeesters versetzen. Konkret versuchen sie den Abend vor der Katastrophe zu vergegenwärtigen.
Emotionaler Nachdruck
Wenn die ergriffenen und niedergeschlagenen Zuschauerinnen und Zuschauer den Schiffbau zuletzt mit hängenden Köpfen wieder verlassen, dann spricht das selbst für den emotionalen Nachdruck der Produktion. Tatsächlich pendeln am Ende auch hier eine Mutter, ein Vater und zwei junge Frauen tot an einem Strang. Der Schluss ist so drastisch, dass man mitheulen möchte mit dem Hund, der von der Bühne hinunter winselt.
Es liegt nahe, das ganze Stück vom Ende her verstehen zu wollen. Allerdings hat «Familie», was den Fall Demeester betrifft, wenig zu bieten an polizeilicher oder psychischer Logik. Das Faktum des familiären Suizids wird nicht nachvollziehbar, es bleibt ein schwarzes Loch der Spekulation. Auf einer symbolisch-exemplarischen Ebene indessen erinnert es an die Funktion griechischer Tragödien, in denen sich allgemein-existenzielle Herausforderungen in blutiger Übertreibung manifestieren.
Wenn man sich elend fühlt in diesem Stück und vor allem mitgenommen, liegt das nicht nur am rätselhaften Schicksal der Demeesters, sondern auch an der traurigen Präsenz der Bühnenfamilie. Sie zeigt eine banale Alltäglichkeit, mit der man durchaus vertraut ist. Jede Familie sei anders in ihrem Unglück, behauptet Tolstoi zwar in «Anna Karenina». Milo Rau hingegen macht deutlich, dass Traurigkeit und Tod in der Struktur der Kleinfamilie angelegt sind.
Dabei setzt Milo Rau zunächst weniger auf Handlung als auf Stimmung. In frontaler Perspektive blickt das Publikum ins Halbdunkel eines Einfamilienhauses, wo schon die schwachen Funzeln einen Mangel an Vitalität signalisieren. Zwischen den schmalen Klinkermauern der modernistischen Architektur erkennt man Bad, Küche, Stube. Die provinzielle Baulichkeit wird an der Stirnseite durch einen Screen ergänzt, auf den einerseits filmische Recherchen zum Fall Demeester projiziert werden, andrerseits aber auch Familienfilme sowie die Aufnahmen eines Kameramanns, der einzelne Figuren und Szenen der Theaterproduktion hervorhebt.
Im familiären Querschnitt sieht man die Mutter Fotos über einer Konsole im Bad aufhängen, der Vater macht sich über der Kücheninsel an einem letzten Abendmahl zu schaffen, während die Töchter Englischwörter pauken – als verspräche die Weltsprache den Ausbruch aus der deprimierenden Stille, die wie ein Albdruck über der Szenerie dräut.
Die Beklemmung nimmt weiter zu, wenn sich die Familie zum Abendessen versammelt. Es kann kein lebendiges Gespräch mehr aufkommen, weil offenbar alles schon gesagt ist, weil sich die familiären Rollen in familiären Ritualen totgelaufen haben. Dabei zeigen aus dem Off eingespielte innere Monologe, wie alle von Angst oder Schuldgefühlen geplagt werden. Die Eltern fühlen sich immer fremder im Leben der Kinder. Die Töchter ihrerseits werden geplagt von Einsamkeit ebenso wie von globalen Drohungen und Gespenstern.
Der Bruch der Generationen
Wenn Papa schliesslich das Tischgespräch durch Erzählungen aus seiner gloriosen Vergangenheit zu beleben sucht, beweist das erst recht, dass dem Bund der Generationen das Ende droht: Während die Töchter sich um eine Zukunft kümmern, geraten die Eltern, von familiären Pflichten ebenso befreit wie von beruflichen Perspektiven, in den Sog der eigenen Vergangenheit. In diesem Bruch scheint die kollektive Depression zu schwären, die Milo Raus eindrückliche Inszenierung dominiert.
Aber ginge es nicht auch anders? Könnte man das familiäre Verhängnis nicht auch mit therapeutischer Distanz und befreiender Ironie thematisieren? «Sorry, wir haben es vermasselt» – das können ja alle Eltern gelegentlich sagen; Gesprächsflauten und Gefühlsstau kommen eben in den besten Sippschaften vor. Gleich zu Beginn des Stück zählen An, Filip, Leonce und Louisa überdies Empfindungen und Erfahrungen auf, die ihr Leben lebenswert machen: vom Gesang der Vögel über schulfreie Tage bis hin zum Regen, der ans Fenster prasselt. Offenbar hält der familiäre Alltag stets auch einige schöne Attraktionen bereit.