Lange stand es nicht gut um die Innovationsfähigkeit der Pharmasparte des deutschen Bayer-Konzerns. Oelrich erklärt, wie das Unternehmen gegengesteuert hat, was sich in Europa verbessert hat – und was hier wie dort zu tun bleibt.
Herr Oelrich, 2018 hat Sie Bayer als Vorstandsmitglied und Leiter der Division Pharmaceuticals in den Konzern zurückgeholt. Damals drohte eine «Patentklippe»: Das Ende des Patentschutzes für wichtige Blockbuster und damit Konkurrenz durch billigere Nachahmerprodukte rückten näher, aber Bayer hatte kaum Nachfolger in der Pipeline. Hat Sie das nicht abgeschreckt?
Tatsächlich hingen damals zwei grosse Wolken über Bayer: zum einen die hohe Verschuldung im Zusammenhang mit der Monsanto-Übernahme und andererseits das bevorstehende Auslaufen des Patentschutzes für zwei der wichtigsten Umsatzträger, den Blutgerinnungshemmer Xarelto und die Augenspritze Eylea, in den Jahren 2024 und 2025. Ich hatte aber das Versprechen des damaligen Vorstandsvorsitzenden, weiter ins Pharmageschäft zu investieren, und noch gut fünf Jahre Zeit. Ich habe mir gesagt, das reicht, um etwas zu verändern.
Hat es gereicht?
Ja. Wir haben so viele neue Produkte an den Start gebracht, dass es keine «Patentklippe» mehr gibt, sondern nur noch eine kleine «Patentdelle». Wir werden in den nächsten Jahren, die gekennzeichnet sind vom Ablauf des Patentschutzes für die beiden genannten Produkte, stabile statt stark fallende Umsätze haben. Geschafft haben wir das durch Investitionen sowohl in Produkte, die schon nahe an der Marktreife waren, als auch in frühe Entwicklungen. Zudem haben wir das bestehende Portfolio optimal ausgenutzt.
Welches sind die neuen Umsatzträger?
Es geht um fünf Produkte. Nubeqa, ein Medikament zur Behandlung von Prostatakrebs, dürfte 2024 bereits einen Umsatz von gut 1,5 Milliarden Euro eingebracht haben und ist vielleicht das am schnellsten wachsende Produkt der Firmengeschichte. Kerendia zur Behandlung von Niereninsuffizienz hat letztes Jahr rund 0,5 Milliarden Euro beigetragen, und wir entwickeln es für weitere Anwendungen weiter. Diese beiden Medikamente geben schon einen guten Ausgleich für den Rückgang bei Xarelto, das zuvor ungefähr 4 Milliarden Euro pro Jahr Umsatz gebracht hat, und sie werden weiter wachsen.
Und die anderen drei?
Dazu zählen wir auch Eylea, das in einer Studie mit einer Anwendung in höherer Dosierung erstaunlich gute Ergebnisse erzielt hat. Deshalb glauben wir, die Umsätze trotz Ablauf des Patentschutzes in den nächsten Jahren stabil halten können. Hinzu kommen zwei neue Medikamente aus Zukäufen eines Unternehmens bzw. einer Lizenz: Elinzanetant, das Beschwerden in den Wechseljahren auf nichthormoneller Basis lindert und das wir im Verlaufe dieses Jahres in den Markt einführen werden, und Acoramidis zur Behandlung von Herzinsuffizienz, das wir 2025 in Europa auf den Markt bringen werden.
Anstatt über den Verlust von zwei Blockbustern reden wir nun davon, fünf neue dazuzubekommen, auch wenn das in der Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen wird.
Allerdings erlitten Sie im November 2023 einen massiven Rückschlag, als Sie eine klinische Studie mit dem als Xarelto-Nachfolger gedachten Gerinnungshemmer Asundexian wegen unbefriedigender Resultate vorzeitig abgebrochen haben.
Wir haben immer gesagt, auch vor dem Abbruch der Studie, dass wir mit und ohne Asundexian wachsen würden. Mit Asundexian wären wir natürlich deutlich schneller gewachsen. Wir führen aber eine zweite Studie für andere Anwendungen von Asundexian weiter und erwarten die Ergebnisse im dritten Quartal. Dann werden wir sehen, ob das Medikament doch noch zum Blockbuster taugt. Wir hatten uns mehr erhofft, aber solche Rückschläge gehören dazu, Pharma ist ein riskantes Geschäft.
Bayer Pharmaceuticals habe sich an mehreren Stellen neu erfunden, sagen Sie.
Wir haben auch Felder besetzt, die die Zukunft der Medizin bedeuten: die Zell- und Gentherapie. Als ich zurückgekommen bin, hatte Bayer eine Minderheitsbeteiligung am amerikanischen Unternehmen BlueRock, das regenerative Zellen herstellt. Das war damals eine ganz junge Firma, die noch kein Produkt in der Klinik hatte. Ich war begeistert von der potenziellen Möglichkeit, mit regenerativen Zellen Parkinson oder bestimmte Formen der Erblindung ursächlich bekämpfen zu können. Statt den Anteil an BlueRock wie geplant an die Börse zu bringen, haben wir das Unternehmen ganz übernommen und sind inzwischen in der klinischen Entwicklung weit fortgeschritten. Im Jahr 2020 haben wir zudem AskBio, ein auf Gentherapien spezialisiertes amerikanisches Unternehmen, übernommen.
Auch geografisch will sich die Pharmasparte neu ausrichten.
Wir waren eine sehr europazentrierte Organisation. Wir hatten keine Rechte auf Xarelto und Eylea in den USA. Wir waren im wichtigsten Markt der Welt, den USA, auf allen Ebenen, Forschung, Produktion und Vertrieb, untervertreten. Das haben wir jetzt geändert. Für die erwähnten neuen Produkte haben wir auch die vollen USA-Rechte. Deswegen kriegen wir auch relativ schnell einen Umsatzzuwachs, der ausgleicht, was wir in Europa und China bei Xarelto verlieren. Zudem haben wir durch die Akquisition von BlueRock, AskBio und einem dritten Unternehmen namens Vividion drei Forschungsstandorte in den USA.
Sind weitere grössere Akquisitionen geplant?
Grössere Firmenzukäufe sehe ich zumindest in den nächsten zwei, drei Jahren nicht. In den letzten fünf, sechs Jahren hat die Pharmasparte zwischen 8 und 10 Milliarden Euro in externe Deals investiert. Im Moment hat im Konzern wegen des relativ hohen Verschuldungsgrades der Schuldenabbau Priorität. Aber wir haben ein kleines Akquisitionsbudget zum Beispiel für den Kauf weiterer Lizenzen.
Der neue Bayer-Chef Bill Anderson treibt eine Umorganisation unter dem Titel Dynamic Shared Ownership (DSO) voran, um Hierarchien und Bürokratie abzubauen. Tausende von Stellen werden gestrichen, ab 2026 sollen jährlich zwei Milliarden Euro an Organisationskosten eingespart werden. Wie viele Stellen fallen in Ihrer Sparte weg?
Ich tue mich schwer mit solchen Zahlen. Denn das Programm reiht sich ein in eine Gesamttransformation. Wie erwähnt haben wir in den USA aufgebaut. Durch die Übernahme der drei Unternehmen und den Aufbau eines eigenen Vertriebsnetzes haben wir die dortige Mitarbeiterzahl in einem vierstelligen Bereich erhöht. Zugleich haben wir in Europa in einem deutlich grösseren Massstab abgebaut, auch weil wir infolge des Xarelto-Patentauslaufs weniger Ärztebesucher benötigen. In China bleiben wir etwa stabil. Derzeit beschäftigt die Pharmasparte weltweit rund 37 000 Mitarbeiter, das sind etwa 40 Prozent der Gesamtbelegschaft des Konzerns. Auch unser Anteil an den Einsparzielen ist in dieser Grössenordnung.
Welche weiteren Veränderungen bringt das DSO-Programm?
Der Vorteil liegt vor allem im Abbau der verkrusteten Funktionshierarchien. Im Gegenzug haben wir in meiner Sparte etwa zehn prioritäre sogenannte «Micro Enterprises» gebildet, darunter eines für jeden der erwähnten Blockbuster-Kandidaten. Man muss sich das als virtuelle Firmen vorstellen, als Schnellboote, die mit einem eigenen Finanzrahmen arbeiten und sich aus dem Konzern die nötigen Ressourcen beschaffen. Sie werden ähnlich gemanagt wie die drei Biotech-Akquisitionen in den USA, deren Identität und Unabhängigkeit wir bewusst erhalten haben.
Sorgt das Programm nicht für Unruhe in der Belegschaft?
Die Anpassungen werden gemeinsam mit den Arbeitnehmervertretungen besprochen und sozialverträglich umgesetzt. Wessen Verantwortung sich für ein Team in der herkömmlichen Struktur ändert, wird deshalb nicht weniger Gehalt haben – und oft sogar eine interessantere Tätigkeit, weil die Nähe zur Arbeitsebene wieder grösser ist. Unruhe kommt vor allem von der Unsicherheit. Wir haben in Deutschland Mitbestimmung, und obwohl die Arbeitnehmervertreter am Programm toll mitgearbeitet und die Dinge beschleunigt haben, dauert es hier länger als anderswo. Das schafft vorübergehend Ungewissheit.
Bayer besteht aus drei Teilen, die wenig gemeinsam haben: aus Agrochemie, Pharma und Consumer Health, der Sparte für nicht rezeptpflichtige Medikamente. Böte die von Aktionären wiederholt geforderte Aufspaltung nicht Vorteile?
Solange die Struktur die Einzelgeschäfte in unseren jeweiligen Märkten nicht behindert, gibt es keinen Grund, sie aufzulösen. Wir funktionieren mit drei sehr unabhängigen Geschäften. Bayer hat sich seit der Gründung im Jahr 1863 unzählige Male gehäutet. Anderson beantwortete die Frage einer möglichen Aufspaltung mit «nicht jetzt»; damit sei aber nicht «niemals» gemeint. Im Pharmageschäft gehören wir zwar nicht mehr zu den Top Fünf der Welt, aber in diesem Geschäft ist nicht Grösse das Entscheidende, sondern Innovation.
Trotzdem bleibt der Aktienkurs auf langer Talfahrt. Derzeit ist der Titel für rund 20 Euro zu haben, während er 2015 zeitweise 140 Euro gekostet hat.
Ich möchte nicht über unseren Aktienkurs spekulieren. Der Rechtsstreit in den USA über den Pflanzenschutzwirkstoff Glyphosat schwebt noch immer als dunkle Wolke über uns. Ein Team inklusive Bill Anderson arbeitet mit voller Kraft daran. Gleichzeitig müssen wir das Unternehmen entschulden. Dann werden wir auch die Werthaltigkeit unserer Unternehmensteile wieder stärker zur Geltung bringen.
Bauen Sie in den USA aus, weil Europa und Deutschland nicht mehr attraktiv sind?
Es sind die Märkte, die uns treiben. Wir waren in den USA untervertreten und haben jetzt einen gesunden Mix. Wir haben aber immer noch die meisten Mitarbeiter, Produktionsstätten und Forscher in Deutschland.
Gleichwohl haben Sie 2023 in einem Interview gesagt, Europa und Deutschland seien nicht innovationsfreundlich.
Das hat sich gebessert. Das neue deutsche Medizinforschungsgesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren für klinische Prüfungen und von Zulassungsverfahren für Arzneimittel ist ein Beispiel dafür, dass sich die Politik biopharmazeutischen Innovationen freundlicher nähert und die in den traditionellen Industrien wegbrechenden Wachstumspole ersetzen will. Ein Translationszentrum für Gen- und Zelltherapien, das wir gemeinsam mit der Universitätsklinik Charité hier in Berlin errichten und das Forschungsergebnisse schneller in die Gesundheitsversorgung überführen soll, wird von der Bundesregierung und vom Land Berlin gefördert.
Auch die neue EU-Kommission schlägt gegenüber der Industrie andere Töne an, wie ich als Erster Vizepräsident des europäischen Pharmadachverbandes (EFPIA) feststelle. Europa hat gemerkt, dass wir wettbewerbsfähiger werden müssen.
Auch in Deutschland steht mit den Wahlen vom 23. Februar ein Wechsel an. Was wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten wirtschaftspolitischen Schritte der nächsten Regierung?
Da fällt mir vieles ein. In unserem Industriezweig sind aber vor allem zwei Dinge wichtig. Erstens brauchen wir eine Kapitalmarktreform in Europa, und da kann Deutschland eine wichtige Rolle spielen. Wir brauchen mehr Wagniskapital für junge Unternehmen im Biotechnologiebereich. Wenn das Geld aus Amerika kommt, werden halt auch Ausgründungen meist dort angesiedelt. Unsere Universitäten und Forschungseinrichtungen gehören gemessen an ihren Publikationen nach wie vor zu den führenden in der Welt. Aber im Vergleich zu den USA führt viel weniger davon zu Patenten, und noch weniger wird in verwertbare Produkte ausgegründet.
Zweitens müssen wir Anreize für Forschung und Entwicklung in Europa schaffen. Denn es ist nicht unwichtig, wo die Forschung und die klinische Entwicklung erfolgen. Wir haben zu viele gute Köpfe, die in die USA abwandern, weil sie dort besser ausgründen können oder von bestehenden Firmen oder akademischen Einrichtungen übernommen werden.
Eine Karriere in der Pharma-Industrie
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