Der chinesische Botschafter, Wang Shihting, schliesst eine Teilnahme Chinas an dem von Aussenminister Ignazio Cassis geplanten Ukraine-Gipfel nicht aus. Von zu viel aussenpolitischer Aktivität hält er aber nichts.
Herr Botschafter, Mitte Januar traf sich der chinesische Ministerpräsident Li Qiang unter anderem mit Bundespräsidentin Viola Amherd und Wirtschaftsminister Guy Parmelin. Worum ging es bei diesen Gesprächen?
Zum einen ging es um die Aktivierung des bilateralen Austausches und die Konsolidierung des gegenseitigen politischen Vertrauens. Bei diesem Treffen handelt es sich um den ersten offiziellen Schweiz-Besuch eines chinesischen Ministerpräsidenten seit elf Jahren. Beide Seiten legen grossen Wert auf das Treffen.
Mit welchem Resultat?
Die Schweiz und China sind sich einig, dass die bisherige Kooperation in den Bereichen Freihandel und Zoll vertieft werden soll. Wir klären ab, inwiefern wir bei den Themen Finanzen, digitale Wirtschaft oder grüne Entwicklung stärker zusammenarbeiten können. Und wir wollen den kulturellen Austausch und die Völkerverständigung fördern. Wie Ministerpräsident Li bei seinem Besuch bereits angekündigt hat, wird China eine 15-tägige Visumsfreiheit für Schweizerinnen und Schweizer einführen.
Ab wann soll sie gelten?
Schon ab dem 14. März 2024. Sie gilt für touristische und geschäftliche Reisen, für Besuche bei Familienmitgliedern und Freunden sowie für Transitzwecke.
Hoffen Sie, dass die Schweiz und andere Schengen-Staaten Besuchern aus China bei den Visaerleichterungen Gegenrecht gewähren?
Das hoffe ich. Aber das zu entscheiden, ist Sache der Schengen-Staaten. Beim Besuch von Ministerpräsident Li hat die Schweizer Regierung aber Erleichterungen für Geschäftsvisa in Aussicht gestellt. Wir sind zuversichtlich, dass wir bei dieser Frage vorankommen.
Kommen wir zu den Handelsbeziehungen. Wie gut sind sie?
China ist der drittgrösste Handelspartner der Schweiz, und die Schweiz ist immer noch das einzige kontinentaleuropäische Land, das mit China einen Freihandelsvertrag abgeschlossen hat. Es liegt im beidseitigen Interesse, die Handelsbeziehungen zu vertiefen. Eine gemeinsame Studie der Hochschule St. Gallen und der University of International Business and Economics in Peking zeigt, dass die Nutzungsquote des Freihandelsvertrags bereits 71 Prozent beträgt. Im Jahr 2022 erzielten Schweizer Unternehmen so effektive Einsparungen von 220 Millionen Dollar.
Die Schweiz und China verhandeln seit längerem über eine Weiterentwicklung des Freihandelsabkommens. Wie gut stehen die Chancen auf eine Modernisierung?
Das chinesische Handelsministerium und das schweizerische Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) führen den fachlichen und den technischen Dialog. Die Details werden noch angeschaut. Ich bin aber zuversichtlich, dass ein Ergebnis erreicht werden kann. Eine Modernisierung würde die Zölle noch stärker senken und das bilaterale Handelsvolumen stimulieren. Davon würden beide Länder profitieren.
In der Schweiz ist der politische Druck gross, Zugeständnisse im Bereich der Menschenrechte auszuhandeln. Die Schweiz wird deshalb Arbeits- und Beschäftigungsfragen ansprechen und darauf drängen, dass mit Zwangsarbeit erstellte Güter vom Handel ausgeschlossen sind. Wie beurteilen Sie die politischen Forderungen?
Ich weiss, dass einige Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier Druck machen, um solche Forderungen mit einem Freihandelsabkommen zu verknüpfen. Sie nutzen diese Gelegenheit, um daraus politisches Kapital für sich selbst zu schlagen. China ist strikt gegen eine Verpolitisierung der Gespräche. Deswegen sind wir aber noch lange nicht gegen die Förderung von Menschenrechten!
Wie will Ihr Land denn die Menschenrechte fördern?
China hat in den vergangenen Jahrzehnten im Bereich der Menschenrechte und des Arbeitnehmerschutzes grosse Erfolge erzielt. Das ist international anerkannt.
China hat insgesamt 20 Uno-Menschenrechtsabkommen unterzeichnet. Der Pakt über zivile und politische Rechte ist bisher zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Sie haben bei einem früheren Besuch in Zürich allerdings einmal moniert, die Schweiz lege bei China strengere Massstäbe an als bei westlichen Ländern. Was meinen Sie damit?
Viele westliche Länder, darunter die USA, wenden bei der Beurteilung der Menschenrechte Doppelstandards an. Kommt es in westlichen Staaten zu Menschenrechtsverletzungen, scheinen weniger strenge Standards zu gelten.
Wo zum Beispiel?
Im Gazastreifen ist es seit dem 7. Oktober zu einer humanitären Katastrophe gekommen. Mehr als 30 000 Menschen haben ihr Leben verloren. Doch viele westliche Länder haben diese Menschenrechtskatastrophe entweder übersehen, oder sie ignorieren sie. Das meinen wir, wenn wir von Doppelstandards in Fragen der Menschenrechte reden.
Und was gilt für die Ukraine? Die Schweiz macht sich grosse Hoffnungen, dass China am geplanten Friedensgipfel vor dem Sommer teilnehmen wird. Eine Teilnahme Ihres Landes wäre ein starkes Zeichen.
China ist für die Förderung von Friedensgesprächen und hat sich immer schon dafür eingesetzt. Und wir haben auch eine Strategie für eine politische Beendigung des Konflikts vorgelegt: Die territoriale Souveränität aller Länder muss respektiert und die Uno-Charta muss eingehalten werden. Zudem sollten sich alle Parteien dafür einsetzen, dass der Krieg beendet werden kann. Es muss verhindert werden, dass sich die Krise noch weiter verschlimmert oder gar ausser Kontrolle gerät. Wir verfolgen die Ukraine-Konferenz, die die Schweiz veranstalten wird, aufmerksam und prüfen die Möglichkeit einer Teilnahme.
Wie wollen Sie verhindern, dass der Krieg in der Ukraine weiter eskaliert?
Wir sollten Russland und die Ukraine dabei unterstützen, den direkten Dialog so schnell wie möglich wieder aufzunehmen, damit die Situation schrittweise deeskaliert werden kann. Einseitige Sanktionen können den Konflikt nicht beenden. Sie schaffen nur neue Probleme. China lehnt deshalb einseitige, vom Uno-Sicherheitsrat nicht genehmigte Sanktionen ab.
Die Schweiz hat die Sanktionen der EU übernommen. China sieht das kritisch.
China ist gegen diese einseitigen Sanktionen. Sie werden keinen Frieden bringen und kein Problem lösen.
Sind wir in Ihren Augen noch ein neutrales Land?
In den vergangenen 200 Jahren hat die Schweiz in solchen Fragen stets eine neutrale Haltung eingenommen. Ihre Neutralität war ein wesentlicher Grund dafür, dass sie von den Versehrungen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs verschont wurde. Und sie hat dazu beigetragen, dass aus einem armen Auswanderungsland eine der reichsten und fortschrittlichsten Industrienationen werden konnte. Wir hoffen, dass die Schweiz auch in Zukunft an ihrer Neutralität festhält. Wir sind überzeugt, dass eine neutrale Haltung Ihrem Land nur förderlich sein kann.
Der Überfall der russischen Truppen auf die Ukraine war eine klare Verletzung der Uno-Charta. Indem China nicht mehr Druck auf Russland ausübt, hilft Ihr Land dem Aggressor.
Ich finde diese Kritik gegenüber China unberechtigt und sehr unfair. Seit Beginn des Konflikts hat sich China immer für Friedensgespräche eingesetzt. Unser Staatspräsident hat schon mehrfach mit dem russischen Präsidenten Putin und dem ukrainischen Präsidenten Selenski telefoniert. Dazu kamen Gespräche mit dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron oder dem deutschen Kanzler Olaf Scholz. Wie erwähnt kam es kürzlich zudem an der Sicherheitskonferenz in München zu einem Treffen zwischen dem chinesischen Aussenminister Wang Yi und seinem ukrainischen Amtskollegen. China setzt sich seit Beginn der Krise aktiv für Friedensgespräche ein. Wir hoffen sehr, dass der Frieden bald wiederhergestellt wird und schnell eine sachorientierte Lösung gefunden wird.
China leistet Russland keine militärische Unterstützung?
Der chinesische Aussenminister Wang Yi hat beim Treffen mit seinem ukrainischen Amtskollegen Kuleba am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar dieses Jahres betont, dass China an der politischen Lösung festhalte, Friedensgespräche fördere, kein Öl ins Feuer giesse und nicht vom Schaden profitiere. Er sagte, China verkaufe keine tödlichen Waffen in Konfliktregionen und an beteiligte Parteien. China wird weiterhin eine konstruktive Rolle bei einer baldigen Beendigung des Konflikts und der Wiederherstellung des Friedens in der Ukraine spielen und nicht aufhören, solange es einen Hoffnungsschimmer gibt.
Die vergangenen Jahre waren geprägt von einer zunehmenden Rivalität zwischen China und den USA. Die politischen Spannungen haben zu einem Wirtschaftskrieg geführt. Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz?
Wir hoffen, dass sich die Schweiz in der Frage der Beziehungen zwischen China und den USA weiterhin neutral verhalten und sich nicht auf die eine oder andere Seite stellen wird.
Für viele Schweizer Unternehmen ist der amerikanische Markt wichtiger als der chinesische. Wird sich die Schweizer Wirtschaft eines Tages entscheiden müssen, ob sie mit China Handel treibt oder mit den USA? Oder anders gefragt: Zerfällt die Welt in Blöcke?
Vor einigen Jahren haben die USA den Handelskrieg gegen China entfesselt und ein umfassendes Huawei-Verbot lanciert. Geht es nach den USA, soll China sowohl auf politischer als auch wirtschaftlicher Ebene gebremst werden. Wir sind strikt gegen die hegemoniale Handlungsweise der USA, die den Bemühungen um globale Stabilität und Frieden keinesfalls förderlich ist. Die Welt steht schon vor zu vielen Herausforderungen. Was wir dringend brauchen, sind Friede und Stabilität – und ist keine Konfrontation der Blöcke. Es dient allen Völkern, wenn wir uns von der Mentalität des Kalten Krieges verabschieden. Das Ziel müsste eine friedliche Co-Existenz und Kooperation sein.
Huawei-Kritik hört man auch hier. Die USA halten die Geräte für eine Bedrohung der nationalen Sicherheit. Sind sie das?
Diese Behauptung entspricht nicht der Wahrheit. Die USA haben im Namen der sogenannten nationalen Sicherheit viele Vorwürfe erhoben, sie können jedoch nichts nachweisen. Die Unterdrückung eines High-Tech-Unternehmens durch die US-Staatsmacht schadet der internationalen Kooperation und verzerrt die Marktprinzipien.
Sie haben in den USA studiert. Wie erklären Sie sich die zunehmende Rivalität?
Sie ist im hegemonialen Anspruchsdenken der USA begründet. Unser Staatspräsident Xi hat schon mehrfach betont, dass China keine Absichten hat, die USA als stärkste Macht der Welt abzulösen. Wir hoffen weiterhin auf eine gute Koexistenz. China hat grosses Interesse daran, die bilateralen Beziehungen zu den USA zu stabilisieren und auszubauen. Das Verhältnis zwischen den USA und China gehört zu den wichtigsten bilateralen Beziehungen der Welt. Eine friedliche Koexistenz zwischen den beiden Ländern fördert die globale Entwicklung und den Weltfrieden. Gleichzeitig werden wir unbeirrt und entschlossen unsere Interessen und unsere Souveränität verteidigen.
Welche Rolle hat Europa für China?
Europa ist ein wichtiger Pol der Welt. Wir sehen Europa als Kooperationspartner, nicht als Rivalen. Der Konsens zwischen China und den europäischen Ländern ist in unseren Augen grösser, als es die Unterschiede sind. Von einer guten und vertrauensvollen Zusammenarbeit profitieren beide Partner.
Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagt, China habe sich negativ verändert. Die Ära der Öffnung und der Reformen sei abgelöst worden durch ein Primat der nationalen Sicherheit und Kontrolle.
Ich teile die Meinung von Frau von der Leyen nicht. Nationale Sicherheit ist ein Kernanliegen jedes souveränen Staates. Es ist gängige internationale Praxis, Gesetze für die nationale Sicherheit zu erlassen und wo nötig die Sicherheitsmassnahmen zu kontrollieren. Wie Sie sicher wissen, hat China kürzlich das neue Anti-Spionage-Gesetz in Kraft gesetzt. Bei der Umsetzung konnten wir auf Erfahrungen der USA und europäischer Länder zurückgreifen.
Das Gesetz gibt Behörden ein zusätzliches Werkzeug, um gegen ausländische Firmen vorzugehen, die chinesische Daten und Statistiken auswerten.
Das Anti-Spionage-Gesetz richtet sich nur gegen Cyber-Spionage und klar illegale Informationsbeschaffung. Der legale Datenaustausch zwischen ausländischen Unternehmen in China und ihren Mutterkonzernen in Europa ist in keiner Weise davon betroffen. China ist gerne bereit, mit der Schweiz einen vertieften Dialog über den Umgang mit privaten Daten, aber auch über den grenzüberschreitenden Austausch von wirtschaftsrelevanten Daten zu führen. Internationalen Unternehmen steht die Tür zum chinesischen Markt offen. Die chinesische Reform- und Öffnungspolitik bleibt bestehen.
Eine Frage können wir Ihnen nicht ersparen. Wie gross ist die Gefahr, dass China Taiwan angreift?
Taiwan ist ein untrennbarer Teil von Chinas Territorium. Das ist sowohl in Uno-Resolutionen als auch in diplomatischen Vereinbarungen zwischen China und anderen Ländern verankert.
Sie reden von der Ein-China-Politik.
Genau. Auch die Schweiz anerkennt offiziell an, dass Taiwan ein Teil von China ist. Die Menschen in Taiwan sind unsere Landsleute, wir wollen mit ihnen eine friedliche Lösung finden. Aber es gibt separatistische Kräfte, die mit Hilfe der USA die Unabhängigkeit Taiwans anstreben wollen. China wird die Unabhängigkeit nie erlauben. Wir werden unser Territorium und unsere nationale Souveränität mit grösster Ausdauer und Entschlossenheit verteidigen.