Seit sechs Monaten toben die Kämpfe um Tschasiw Jar. Den Russen gilt der Ort als Einfallstor zum restlichen Donbass. Nun hat sich die ukrainische Armee aus einem Teil der Stadt zurückgezogen.
Vom sogenannten Kanal-Distrikt der Stadt Tschasiw Jar ist nicht viel mehr als Trümmer übrig geblieben. Dutzende Gebäude wurden dem Erdboden gleichgemacht, die meisten anderen sind ausgebombt. Nach monatelangen Kämpfen haben sich die Ukrainer nun aus diesem Teil der Stadt zurückgezogen, wie ein Armeesprecher am Donnerstag bekanntgab. Der Entscheid sei gefallen, weil die Verteidigungspositionen in dem Gebiet zerstört worden seien. Man ziehe sich nun auf besser geschützte Stellungen zurück.
Der Kanal-Distrikt ist ein in östlicher Richtung vorgelagertes Quartier von Tschasiw Jar. Der Ort liegt nur wenige Kilometer von Bachmut entfernt, das die Russen im Mai 2023 nach einer zehn Monate dauernden Kampagne und ohne Rücksicht auf eigene Verluste an sich gerissen hatten. Seit Jahresbeginn hat Moskau nun auch die Angriffe auf Tschasiw Jar intensiviert.
Sowohl für die Russen wie auch für die Ukrainer ist die Stadt von grosser strategischer Bedeutung. Sie liegt auf einem der wenigen Hügel im topfebenen Donbass und gibt damit den Verteidigern entscheidende Vorteile. Die russische Armee wiederum will dieses Bollwerk unbedingt knacken. Fällt Tschasiw Jar, so hofft Moskau, öffnet dies den Weg zu Kramatorsk und Slowjansk, den letzten grossen Städten im Donbass, die in ukrainischer Hand sind. Putin hat die Eroberung des Donbass zu einem der obersten Ziele in seinem Feldzug erklärt.
Tschasiw Jar steht nicht vor dem Fall
In Tschasiw Jar zeigt sich, mit welcher Strategie Moskau die Kontrolle über den Donbass erringen will: Es zerbombt die Verteidigungspositionen der Ukrainer systematisch, bis diese faktisch nicht mehr existieren und sich die Verteidiger zurückziehen müssen. Hier kann Russland seine Überlegenheit bei der Artillerie voll ausspielen.
Eine zentrale Rolle spielen dabei auch zentnerschwere Gleitbomben, die von russischen Kampfjets abgefeuert werden. Die ausgedünnte Flugabwehr der Ukrainer kann ihnen kaum etwas entgegensetzen. Gegenüber der Nachrichtenagentur AP beschrieb ein ukrainischer Offizier das russische Vorgehen als Taktik der verbrannten Erde. Alles, was als Verteidigungsstellung genutzt werden könne, werde beschossen. «Wir können nicht halten, was zerstört ist», sagte er.
Chasiv Yar just today.
The plague of Russian fascism is coming. pic.twitter.com/SwzV7dUhKg
— Illia Ponomarenko 🇺🇦 (@IAPonomarenko) July 4, 2024
Dennoch bedeutet der Rückzug aus dem Kanal-Distrikt nicht, dass Tschasiw Jar unmittelbar vor dem Fall steht. Der Grossteil der Stadt bleibt unter ukrainischer Kontrolle, die Verteidiger haben schlagkräftige Verbände dort stationiert. Zwischen dem vorgelagerten Quartier und dem Rest des Ortes liegt zudem der Kanal, der ein Hindernis für die Angreifer darstellt. Die Brücken darüber sind längst gesprengt. Die strategischen Folgen des Rückzugs dürften vorerst relativ gering sein.
Weiteres Patriot-System angekommen
Gleichzeitig stehen die Ukrainer an der gesamten Ostfront unter massivem Druck. An mehreren Orten waren die russischen Truppen jüngst langsam, aber stetig vorgerückt, etwa bei Torezk, wo Russland die Angriffe an einem zuvor eher ruhigen Frontabschnitt stark intensiviert hat. Nach wie vor haben die Ukrainer mit einem Mangel an Soldaten und Munition zu kämpfen. Zwar hat sich die Lage in jüngster Zeit aufgrund der amerikanischen Waffenhilfe, die seit April wieder fliesst, leicht gebessert.
Doch laut Berichten von ukrainischen Armeeangehörigen verfügen die Russen immer noch über fünf Mal mehr Artilleriegranaten als die Verteidiger. Weil die Munition aus den USA nur tröpfchenweise ankommt, dürfte es Wochen oder gar Monate dauern, bis die ukrainischen Vorräte wieder einigermassen gut gefüllt sind. Es gibt aber auch positive Nachrichten: Am Freitag ist laut dem deutschen Botschafter in der Ukraine das dritte Flugabwehrsystem vom Typ Patriot aus Deutschland in der Ukraine eingetroffen. Kiew braucht dieses dringend, um die anhaltenden Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung abzuwehren.








