Nach mehrfachem Bruch eines Damms stehen viele Ortschaften in der russischen Region Orenburg unter Wasser. Vor allem die einstige Industriestadt Orsk an der Grenze zu Kasachstan ist betroffen. Die Stadtverwaltung hat offenbar zu spät gewarnt.
Als ihr Garten nur noch ein See war, gab Ljubow nach. Lange wollte sie ihr Haus am Rande von Orsk nicht verlassen. Als das Wasser allerdings bis zu ihrer Türschwelle anstieg, setzte sich ihre Tochter durch und nahm die 93-jährige Mutter mit zu sich in die Wohnung in einem mehrgeschossigen Haus auf einer Anhöhe. «Hier ist zum Glück kein Wasser», erzählt die Tochter am Telefon.
Doch schon einige Kilometer weiter versinkt die Stadt mit knapp 200 000 Einwohnern an der Grenze zu Kasachstan, etwa 1700 Kilometer östlich von Moskau, in den Fluten. Mehrere Bezirke sind überschwemmt, weil der Damm, der die Stadt vor dem Hochwasser des Flusses Ural schützen sollte, an mehreren Stellen gebrochen ist. Fast 7000 Häuser sind betroffen, auf Videos sind von manchen von ihnen lediglich die Dächer zu sehen. Freiwillige organisieren Evakuierungen von Menschen und Tieren mit Schlauchbooten. Amphibienfahrzeuge, von der Stadtverwaltung angefordert, bringen die Menschen in die Notunterkünfte.
Altstadt unter Wasser
Der Ural, der die einstige Industriestadt Orsk in Europa und Asien teilt, ist in dieser Region ein mäandernder Fluss. Einer, der immer wieder über seine Ufer tritt und vor allem die Altstadt von Orsk mit den vielen einstöckigen Privathäusern unter Wasser setzt. Im 19. Jahrhundert war die Siedlung ein Verbannungsort, im Zweiten Weltkrieg transportierte die Sowjetmacht etliche Fabriken aus dem Westteil des Landes hierher. Die Stadt galt lange als Arbeiterstadt, bis sie nach dem Zerfall der Sowjetunion immer mehr bröckelte.
Nach Beginn des Krieges in der Ukraine wurde Orsk zum Rettungsanker für russische Exilanten. Nur 15 Kilometer weiter liegt die Grenze zu Kasachstan, dem Land, in das viele Russen geflohen waren, um nicht zum Militärdienst eingezogen zu werden. Nun scheint Kasachstan besser auf das Hochwasser des Urals vorbereitet zu sein. Seit Wochen hatte die kasachische Regierung die Lage an den Flüssen beobachtet, hatte Notunterkünfte organisiert. Mittlerweile wurden mehr als 72 000 Menschen aus Nordkasachstan evakuiert.
Die Orsker sind derweil wütend auf ihre Verwaltung. Noch in der vergangenen Woche hatte sich Wasili Kosupiza, der Bürgermeister der Stadt, bei der Begutachtung des Damms gelassen gegeben. «Derzeit besteht keine Bedrohung. Die Menschen haben keine Angst, dass sie überschwemmt werden könnten. Das diesjährige Hochwasser ist der erste Test für die Stärke des Damms», hatte er gesagt. Nicht einmal zwei Tage später brach der Damm, die Altstadt von Orsk stand unter Wasser. Die Menschen hier sind Überschwemmungen im Frühling gewohnt, doch solche Ausmasse hatte niemand erwartet. Es sei das schlimmste Hochwasser seit hundert Jahren, heisst es bei der Stadt.
Nach und nach hatten sich die Wassermassen auch auf die Neustadt mit vielen Plattenbauten ausgebreitet, zentrale Plätze und Parks verschwanden in den Fluten. Eilig brachten die Rettungskräfte die Notleidenden in Schulen unter. Die zuständige Staatsanwaltschaft eröffnete ein Strafverfahren wegen «Fahrlässigkeit und Verletzung von Sicherheitsvorschriften für den Bau». Angrenzende Dörfer stehen auch nach Tagen im Wasser, auch die Regionalhauptstadt Orenburg, etwa 300 Kilometer westlich von Orsk, ist mittlerweile betroffen. Der Ural ist auf elf Meter angestiegen, der kritische Wert liegt bei neun Metern. Den Höchststand erwarten Beobachter für den 10. April.
Präsident Putin schweigt
Russlands Präsident Wladimir Putin äusserte sich nicht zu der Überschwemmung. Es ist das übliche Vorgehen des 71-Jährigen, der – sei es bei Unglücken, Terroranschlägen oder Naturkatastrophen – erst einmal abwartet. Bei den Menschen bleibt dabei das bittere Gefühl zurück, sie seien dem Staat «wie immer egal». Manche denken allerdings auch, ihr Präsident wisse nichts von den Vorfällen, und nehmen Hilferufe an ihn auf. Auch einige Orsker versammelten sich am Montagnachmittag, um Putin auf ihr Leid hinzuweisen.
Dieser hatte am Wochenende seinen Katastrophenschutzminister Alexander Kurenkow in die Stadt geschickt. Das Staatsfernsehen zitierte den Mann mit den Worten: «Die Evakuierung war vor einer Woche ausgerufen worden, die Leute nahmen die Aufrufe nicht ernst, sie dachten, es sei ein Witz.» Solche Sätze empören die Orsker. «Jetzt sind wir auch noch selbst schuld! Am Ende sagen sie noch, die Ukrainer hätten den Damm zerstört, zusammen mit Bidens Hilfe. Das sind doch die plattesten Erklärungen dieser Tage!», heisst es in einem Chat. «Uns lässt man wie so oft allein mit unserem Leid», sagt eine 51-jährige Frau aus dem Stadtteil «Erster Mai», der in Orsk liebevoll «Maika» genannt wird.
Es sind vor allem die Maika-Bewohner, die die Hilfe der Stadt vermissen. «In unserem Stadtteil gab es keine Sirenen, keine Aufrufe, die Häuser zu verlassen. Den Wasserstand messen wir hier selbst. Bis heute haben wir kein Gas, die Regale in den Geschäften sind mittlerweile leer. Das Wasser kochen wir ab. Brot backe ich selbst, unser Herd ist elektrisch, der Strom wurde immerhin noch nicht abgestellt», sagt die Frau, die mit ihrem Teenager-Sohn in einem Haus in Maika lebt. «In den Nachbarstrassen steht das Wasser schon teilweise zwei Meter hoch, es ist so beängstigend, ich schlafe seit Tagen kaum noch.»
Wütende Orsker
Die Orsker organisieren sich in Chats. Hier posten sie Bilder aus den überfluteten Strassen, bieten freie Zimmer an, schreiben, wo es frisches Wasser gibt, bieten Hilfe bei der Evakuierung von Tieren – und lassen ihrer Wut freien Lauf. «Der Bürgermeister muss weg! Wofür zahle ich meine Steuern? Um mit allem, was ich habe, abzusaufen, während er sagt, alles sei unter Kontrolle?», steht da.
Bei Katastrophen lässt der russische Staat zivilgesellschaftliches Engagement zu, das er sonst stets erstickt. Er ist auf die Hilfe der Zupackenden angewiesen. In Maika sind sie froh um die Freiwilligen. «Ich bin so glücklich, dass es diese wunderbaren Menschen gibt. Sie brachten unseren Kindern gerade Kleidung, ein paar Spielzeuge», schreibt Jewgeni in einem Chat. Sein Haus steht unter Wasser, die Familie hat Zuflucht in einer Notunterkunft gesucht, wie es weitergehe, wisse er nicht. «Wir können uns nur auf uns selbst verlassen. Das ist Russland, Kindchen», sagt die 51-Jährige aus Maika. Verbitterung und Hilflosigkeit klingen aus ihrer Stimme.