Renzo Piano, Antonio Scurati und Jovanotti: Eine Reihe von Prominenten und Zehntausende Italiener haben am Wochenende auf einer Kundgebung ihr Bekenntnis zu den Werten Europas demonstriert. Die Bewegung hofft auf einen Nachahmungseffekt in anderen Ländern.
Die Piazza del Popolo, Schauplatz denkwürdiger Grosskundgebungen im Zentrum Roms, war für einmal ganz in Blau gehalten. 50 000 Menschen, viele von ihnen ausgerüstet mit der Europaflagge, haben am Samstagnachmittag ein Zeichen für europäische Werte gesetzt. «L’Europa siamo noi» lautete das Motto der Veranstaltung, zu Deutsch: Wir sind Europa.
Initiiert wurde die Manifestation nicht etwa von den politischen Parteien des Landes, sondern von Michele Serra. Der in Italien bekannte Autor und Journalist hatte vor einem Monat zunächst in seinem Newsletter «Ok, Boomer» die Idee einer solchen Grossveranstaltung lanciert: Eine Demonstration nicht für die EU sollte es werden, schrieb Serra, «sondern für das, was sie werden könnte: die Vereinigten Staaten von Europa». Tage später nahm die «Repubblica» den Ball auf und räumte Serra, der in der linksliberalen Zeitung eine regelmässige Kolumne hat, einen prominenten Platz auf der Frontseite ein, um die Idee zu konkretisieren. Schliesslich stellten sich die Bürgermeister der grossen italienischen Städte, allen voran Roberto Gualtieri, «sindaco» von Rom, zur Verfügung, um die Organisation zu übernehmen.
Einen Nerv getroffen
Am Samstag war es nun so weit. Dem Wunsch des Initiators entsprechend waren auf der Piazza del Popolo keine Parteisymbole zu sehen, sondern lediglich die Europaflagge und einige Ukraine- und Georgien- sowie Friedensfahnen. Es gehe nicht darum, konkrete Forderungen zu stellen, sondern vielmehr darum, einem Gefühl Ausdruck zu geben, sagte Serra im Vorfeld.
Die Welt verändere sich mit unvorhergesehener Geschwindigkeit, die Geschichte galoppiere und gönne selbst den Unaufmerksamsten und Faulsten keine Pause. «Es braucht nur ein Gespräch in der Bar, um zu wissen, dass man die Gegenwart mit Verwirrung und die Zukunft mit Besorgnis betrachtet.» Vor diesem Hintergrund habe eine Demonstration nur mit europäischen Flaggen, die als einziges Ziel die Freiheit und Einheit der Völker Europas hat, eine «tiefe und beruhigende Bedeutung».
Offenbar hat Serra damit einen Nerv getroffen. Jedenfalls nahm die Sache rasch Fahrt auf, die «Repubblica» publizierte jeden Tag Gastkommentare prominenter Autoren, unter ihnen der Modeschöpfer Giorgio Armani oder der frühere Ministerpräsident Romano Prodi. Und auch die Bühne auf der Piazza del Popolo war prominent bestückt. Per Videoschaltung sprachen der populäre Liedermacher Jovanotti, der Architekt Renzo Piano und die Ehrensenatorin und Holocaust-Überlebende Liliana Segre zu der Menge. Persönlich anwesend waren zahlreiche italienische Intellektuelle und Autoren wie der Mussolini-Biograf Antonio Scurati, junge Vertreter der Generation «Erasmus» sowie aus dem Ausland der Bürgermeister von Barcelona, Jaume Collboni, und der belgische Liberale Guy Verhofstadt.
Auch die italienischen Parteien waren schliesslich präsent, hielten sich aber im Hintergrund. Während von den Regierungsparteien der Rechtskoalition niemand zu sehen war, waren alle Mitte-links-Parteien vertreten. Es sei kein Tag für Polemiken, sagte Elly Schlein, die Vorsitzende des oppositionellen Partito Democratico (PD), am Rande der Veranstaltung.
Ratlose Parteien
Dass die Initiative zu dem Anlass weder vom PD noch von den anderen Oppositionsparteien ergriffen wurde, müsste deren Verantwortliche eigentlich nachdenklich stimmen. Offenbar fehlt ihnen das entsprechende Sensorium. Die italienischen Parteien, insbesondere jene von Mitte-links, seien nicht in der Lage, die Energie, die sich auf der Piazza del Popolo gezeigt habe, zu kanalisieren und daraus konkrete Anliegen zu formulieren, analysierte Stefano Feltri, ein massgeblicher politischer Beobachter, am Tag nach der Grossveranstaltung.
Tatsächlich gibt es in der Opposition (aber durchaus auch in der Regierungskoalition) in zentralen Dossiers markante Meinungsunterschiede in der gegenwärtigen Debatte, etwa in der Frage der Erhöhung der Rüstungsausgaben oder einer gemeinschaftlichen europäischen Verteidigungspolitik. Der PD ist diesbezüglich gespalten. Zwischen der aktivistischen Parteiführerin Schlein und den sogenannten Pragmatikern liegen Welten.
Die Demonstration am Samstag ging über die Niederungen der Tagespolitik hinweg. Es sollte eine «nachdenkliche und ruhige Piazza» sein, sagte Serra. Auch Zweifel müssten Platz haben. Selbst den Nichtanwesenden zollte der Initiant seinen Respekt.
Sein Wunsch ging in Erfüllung. Doch wie lange die Energie angesichts dieser Unverbindlichkeit anhält und ob daraus, wie von Serra gewünscht, eine italienische oder gar europäische Bewegung entsteht, ist offen.
Und als ob er die Gefahr, dass sich das Ganze wieder verläuft, sähe, beschwor Serra die Menge zum Schluss: «Verlieren wir uns nicht aus den Augen!»