Die Kantone stellen sich mit grosser Mehrheit hinter das neue Verhandlungsmandat. Die Schweiz müsse ihr Verhältnis zur EU rasch regeln, sagt der Aargauer Landammann Markus Dieth, Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK). Etwas aber sei unabdingbar.
Die Kantone haben den Bundesrat vor bald einem Jahr zu neuen Verhandlungen mit der EU ermuntert. Warum haben sie sich früh exponiert?
Wir haben zum Verhältnis zur EU schon immer Position bezogen. Nach dem Abbruch beim Rahmenabkommen sind wir zum Schluss gelangt, dass sich die KdK engagieren muss. Geregelte Beziehungen zur Europäischen Union sind für uns enorm wichtig. 15 von 26 Kantonen grenzen an die EU. Die Hälfte der Schweizer Exporte geht in die EU, aus der zwei Drittel unserer Importe kommen. Die Schweiz verdient jeden dritten Franken im Handel mit der EU. Gemäss einer Studie befinden sich sieben der Regionen Europas, die am meisten vom Binnenmarkt profitieren, in der Schweiz. Darunter sind die Nordwest- und die Zentralschweiz. Zürich und das Tessin liegen auf dem ersten und dem zweiten Platz.
Nun haben sich die Kantone jedoch nicht einstimmig hinter das neue Verhandlungsmandat mit der EU gestellt. Schwyz hat Nein gesagt, und Nidwalden hat sich enthalten. Wie erklären Sie sich das?
Als die Kantone im März ihre Position zu neuen Verhandlungen festgelegt haben, lagen viele heikle Themen wie die Unionsbürgerrichtlinie, die etwa das Aufenthaltsrecht betreffen, noch nicht auf dem Tisch. Es ging nun im Gegensatz zum Frühjahr auch um konkrete inhaltliche Fragestellungen. Da liegt es in der Natur der Sache, dass die Meinungen bei einzelnen Fragen stärker auseinandergehen können. Die grosse Mehrheit der Kantonsregierungen steht aber weiterhin hinter den Verhandlungen mit der EU und will den Bundesrat darin unterstützen.
Warum haben die Kantone nicht einzeln Stellung genommen?
Die KdK gehört neben den beiden Aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments zu den drei Institutionen, die der Bundesrat in der Aussenpolitik konsultieren muss. Eine Stellungnahme macht sie nur, wenn achtzehn Kantonsregierungen zustimmen. Da ist im Gegensatz zu den Direktorenkonferenzen sichergestellt, dass es sich immer um Beschlüsse der Gesamtregierungen handelt.
Die KdK meldet bei der Unionsbürgerrichtlinie Vorbehalte an. Ist es angesichts der hohen Zuwanderung klug, die Personenfreizügigkeit mit dem Daueraufenthaltsrecht für Erwerbstätige zu erweitern?
Für Bürger aus den alten EU-Staaten ist das heute nicht komplett anders. Aber bei der Unionsbürgerrichtlinie gibt es mehrere Punkte, die wir in den Verhandlungen mit der EU noch diskutieren müssen. Im Freizügigkeitsabkommen existiert eine Schutzklausel, die ausgelöst werden kann, wenn es schwerwiegende wirtschaftliche und soziale Probleme gibt. Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats wünscht, dass der Bundesrat die praktische Anwendung dieser Klausel in den Verhandlungen thematisiert. Das ist ein guter Vorschlag.
Denken Sie dabei auch an die Initiative der SVP gegen eine 10-Millionen-Schweiz, die erneut die Personenfreizügigkeit ins Visier nimmt?
Eine Schutzklausel bei der Zuwanderung wäre ein Element, das in der Schweiz gut aufgenommen würde. Die Schweiz sprach mit der EU nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative bereits einmal über die Schutzklausel, aber dann kam der Brexit dazwischen. Vielleicht ist die Situation heute mit dem geplanten Gesamtpaket besser.
Der Bundesrat will die Verhandlungen mit der EU noch dieses Jahr abschliessen. Ist dieses Tempo nötig?
Wir müssen unser Verhältnis zur EU rasch regeln. Gegenwärtig haben wir in vielen Bereichen einen Stillstand, vom Strom bis zur Forschung. Ein Stromabkommen ist für unsere Versorgungssicherheit eminent wichtig. Im Vergleich zum Rahmenabkommen hat die Schweiz in den technischen Gesprächen und den Sondierungen einiges herausgeholt. Wir sind mit der EU auf gutem Weg, um die Beziehungen zu stabilisieren und weiterzuentwickeln.
Grundsätzliche Elemente wie die Streitbeilegung sind aber ähnlich geregelt wie im Rahmenvertrag. Handelt es sich um alten Wein in neuen Schläuchen?
Nein. Wir müssen zwischen rechtlichen und politischen Streitigkeiten unterscheiden. In einem politischen Streitfall herrschen heute kompletter Stillstand und Unsicherheit. Die EU friert faktisch die Bilateralen ein, wenn sie sich mit der Schweiz nicht einigt. Neu gibt es eine institutionalisierte Streitbeilegung. Im Vergleich zum Rahmenvertrag gibt es eine Verbesserung: Es geht immer nur um das fragliche Abkommen, nicht mehr um horizontale Fragen über alle Bereiche. So bleiben bei der Regelung der Staatsbeihilfen der Service public oder die Kantonalbanken unangetastet.
Die Streitbeilegung mit der Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist weitgehend identisch mit dem Rahmenvertrag. Sie beschönigen das Modell, wenn Sie sagen, es gebe keine «fremden Richter».
In einem Rechtsfall in der Schweiz wird der EuGH weiterhin nichts zu sagen haben. Da sind unsere Schweizer Gerichte zuständig. Bei politischen Uneinigkeiten, etwa beim Landwirtschaftsabkommen, würde das Schiedsgericht den EuGH für eine Auslegung beiziehen, wenn es sich um EU-Recht handelte. Aber entscheiden würde am Ende immer noch das Schiedsgericht.
Aber wenn der EuGH eine verbindliche Auslegung macht, gibt es kaum Spielraum, davon abzuweichen.
Theoretisch könnte das Schiedsgericht immer noch davon abweichen. Vor allem aber wird neu klar geregelt, was passiert, wenn die Schweiz eine Rechtsübernahme ablehnt. Die EU könnte Ausgleichsmassnahmen ergreifen, die verhältnismässig sein müssten. Das Schiedsgericht würde nur überprüfen, ob dies der Fall ist. Der wesentliche Vorteil der Bilateralen III ist, dass die EU nicht einseitig alles stoppen kann, wie es heute zum Beispiel bei der Forschung der Fall ist.
Die Kantone lehnen eine supranationale Überwachung ab. Falls die EU mit einer staatlichen Beihilfe der Schweiz nicht einverstanden ist, könnte sie aber das Streitbeilegungsverfahren in Gang setzen. Wird die nationale Überwachung damit zur Makulatur?
In Einzelfällen entscheiden eine unabhängige Schweizer Behörde und Schweizer Gerichte, genau so, wie es die EU auf ihrer Seite tut. Das Schiedsgericht könnte nur beigezogen werden, wenn die eine Seite der Auffassung wäre, dass die Gegenseite etwa beim Stromabkommen systematisch gegen die vereinbarten Regeln verstossen hätte. Einzelne konkrete Fälle wären nicht Sache des Schiedsgerichts.
Bei einer Einigung mit der EU dürfte das Volk das letzte Wort haben. Soll das Verhandlungspaket dem obligatorischen Referendum mit dem Ständemehr unterstellt werden?
Man muss schon einmal sagen: Die Kantone werden über die KdK und die Stände über die Ständeräte sehr gut einbezogen. Diese Frage des obligatorischen oder fakultativen Referendums muss beurteilt werden, wenn das Verhandlungsergebnis auf dem Tisch liegt. Es hängt davon ab, ob zum Beispiel eine Verfassungsänderung nötig ist oder das Resultat einer solchen nahekommt. Der Bundesrat wird wohl eine Empfehlung ans Parlament machen, das darüber befinden muss. Es ist nicht Sache der Kantone, dies zu entscheiden. Wir würden eine Empfehlung abgeben, wenn wir konsultiert würden.
Kritiker monieren, mit der dynamischen Rechtsübernahme würde der Spielraum der Kantone kleiner. Unterschätzen Sie die Folgen?
Die dynamische Rechtsübernahme erfolgt nicht automatisch, sondern folgt unseren üblichen gesetzgeberischen Prozessen. Wir kennen das vom Schengenabkommen mit der EU. Vieles betrifft oft die technische Ebene. Die Kantone haben vor zehn Jahren überprüfen lassen, welche Folgen eine dynamische Rechtsübernahme für den Föderalismus haben könnte. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch, wie der politische Einfluss der Kantone beibehalten oder verbessert werden kann. Deshalb glaube ich nicht, dass die dynamische Rechtsübernahme für die Einflussnahme der Kantone ein Problem ist.
Nur Schwyz lehnt neue Verhandlungen mit der EU ab
In der Europapolitik ist es für den Bundesrat eine gute Woche. Am Dienstag hat die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats mit 16 zu 9 Stimmen ihre Stellungnahme zum Verhandlungsmandat mit der EU verabschiedet. Am Freitag folgte an ihrer Plenarversammlung in Bern die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK). Der Entwurf der Leitlinien für Verhandlungen mit der Europäischen Union entspreche grundsätzlich den Erwartungen und Anliegen der Kantone, teilte die KdK mit. 24 der 26 Kantone befürworteten die gemeinsame Stellungnahme. Schwyz stimmte dagegen, und Nidwalden enthielt sich.
Gewisse Vorbehalte bringt die KdK bei der Unionsbürgerrichtlinie an, die Fragen wie das Aufenthaltsrecht und den Zugang zum Sozialstaat regelt. Sie begrüsst zwar die Ausnahmen, die der Bundesrat in den Sondierungen mit der EU erreicht hat. Die Kantone verlangen aber, dass in den Verhandlungen noch offene Fragen geklärt werden. Eine fehlende oder nicht genügende Integration stehe dem Anspruch auf einen Daueraufenthalt entgegen. Zudem halten die Kantonsregierungen fest, dass es weitere inländische Massnahmen brauche, um zu verhindern, dass das Sozialsystem missbraucht werde. Analog zu den Arbeiten beim Lohnschutz sollten die Gespräche vorangetrieben werden. (gaf.)