«The Wizard of the Kremlin» versucht, den Herrscher Russlands aus der Perspektive eines fiktiven Beraters zu deuten. Der mit Spannung erwartete Film hatte am Filmfestival Venedig Premiere.
Mindestens zwei Monster treiben dieses Jahr im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig ihr Unwesen. Das prominentere der beiden wird in Guillermo del Toros Netflix-Epos «Frankenstein» von einem überambitionierten Wissenschafter erschaffen. Das andere trägt Massanzug und residiert im Kreml.
Gemeint ist keineswegs Wladimir Putin. Er ist nicht der titelgebende «Wizard of the Kremlin» im neuen, ebenfalls zweieinhalbstündigen Film von Olivier Assayas, sondern sein Spindoktor und Medienphilosoph Wadim Baranow. Eine fiktive Figur, inspiriert vom realen Präsidentenberater Wladislaw Surkow. Er ist kein spektakulärer Zauberkünstler wie der Teufel aus Michail Bulgakows Roman «Meister und Margarita» und auch kein verruchter «Rasputin», wie ihn manche nennen.
Baranow ist der leise, unauffällige Mann im Hintergrund, dessen Gedanken stets um die Zukunft Russlands kreisen und vollkommen auf den Weg konzentriert sind, wie diese Zukunft zu erreichen sei. Paul Dano, der zuletzt seine Fähigkeit für den versteckten Fiesen als Riddler in «The Batman» (2022) beweisen konnte, spielt diesen stets lächelnden Buddha als intellektuellen Roboter. Einmal mehr verbirgt sein ewig glattes Kindergesicht die Abgründe, die sich auf dem Weg vom Idealisten zum Zyniker auftun.
Am Kuchen der Macht
Die Karriere des späteren Kreml-Chefideologen beginnt im Moskau der frühen neunziger Jahre, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion plötzlich vom Virus der Freiheit infiziert wird. Nun soll die Kunst als brummender Motor für den gesellschaftlichen Neustart fungieren. Baranow führt Regie am Theater, verbringt die Nächte kettenrauchend, mit Sektflasche in der Hand, in überfüllten Studentenbuden. Da wird gesoffen, geprügelt, gevögelt, dazwischen versuchen nostalgisch hängengebliebene Freunde aus dem Westen (Cameo des Co-Autors Emmanuel Carrère), der russischen Jugend die Vorzüge des Kommunismus zu erklären. Doch diese winkt ab, hedonistischer Konsum ist angesagt, Party und Punk statt Politik.
Nachdem seine Freundin Ksenia (Alicia Vikander) ihn für einen aufstrebenden Oligarchen-Bubi sitzenlässt, will Baranow selbst vom Kuchen der Macht naschen. Er tauscht das verkopfte Theater gegen die grelle TV-Bühne, produziert Reality-Shows und gerät in den Dunstkreis des mächtigen Senderchefs Boris Beresowski (Will Keen), der in der Realität im englischen Exil 2013 starb. Dieser will langfristig Präsident Jelzin ersetzen lassen, der zwar beim Volk beliebt ist, aber schwer herzkrank und bereits morgens so wodkavoll, dass man ihn zur Wahlkampfansprache an den Stuhl binden muss, damit er nicht umkippt.
«Make Russia great again»
Eine neue Führung muss her. Ein frisches Hirn, das eine harte Hand zu steuern vermag, die endlich Ordnung in den russischen Saustall bringt. Analytischer im Film ausgedrückt: Die vertikale Achse der staatlichen Autorität, jahrelang stabil in der UdSSR, muss wieder jene neue Horizontale der Volksnähe ersetzen, die der Saufkumpan Jelzin geprägt hat.
Fündig wird Beresowski in den grauen Kellerräumen des ehemaligen Geheimdienstes KGB: bei Wladimir Putin (Jude Law). Der zeigt wenig Humor und – anfangs – noch weniger Willen, seinen soliden Posten als Staatsdiener gegen wankelmütige Politik zu tauschen. Doch er macht ebenso schnell klar: Wenn er einmal Präsident ist, muckt keiner mehr auf, das sei qua Amt undenkbar. Und er bindet für seine historische Mission der Marke «make Russia great again» den anpassungswilligen Baranow an sich, der sich in den Folgejahren bei jedem medialen Feldeinsatz bewährt.
Zuerst beim zweiten Tschetschenienkrieg, gegen das Auseinanderbrechen alter Hoheitsgebiete. Dann im Kampf um die Medienhoheit beim Sinken des Atom-U-Boots «Kursk», bei dem der zögerliche Putin erst einmal schlecht aussieht. Bei der Verfolgung von Oligarchen, deren kapitalistische Eigeninteressen das Staatswohl gefährden, und dem Aufbau russischer Trollfabriken zur Destabilisierung des Westens. Und natürlich, hier sind wir voll in der Gegenwart, bei der schrittweisen Annexion der Ukraine und der Niederschlagung der Maidan-Revolution. Ein Parforceritt durch zwei Jahrzehnte russischer Geschichte, die uns zwar unmittelbar nah ist, aber im Film historisches Flickwerk bleibt. In die Tiefe geht nichts.
Jude Law überzeugt als Putin
Die Geschichte der fatal-fruchtbaren Verquickung zwischen dem neuen Zaren und seinem Adlatus erzählt Letzterer dem amerikanischen Autor Rowland (Jeffrey Wright). Der forscht 2019 in Moskau über Jewgeni Samjatin, der mit seiner Dystopie «Wir» 1924 literarisch die Totalitarismuskritik von George Orwell vorwegnahm. Über das gemeinsame Thema begeben sich Russe und Amerikaner auf einem Landsitz, wo Baranow sich inzwischen liebevoll um seine Tochter kümmert. Es ist eine Beichte, ohne den Willen zur Absolution. Ukrainisches Blut klebe an seinen Händen, wirft ihm Rowland vor. Baranow dreht nur leise lächelnd die blanken Handflächen.
Jude Law und Wladimir Putin verbindet wenig, ausser dass beide ausgesprochen bekannte Männer sind. Während der eine seine bekannteste freizügige Szene oben ohne im Sattel eines Pferds inszenierte, galt der andere spätestens seit «The Talented Mr. Ripley» (1999) als globales Sexsymbol. Auch wenn die Zeit am britischen Schauspieler nicht spurlos vorübergegangen ist, hat er sich seinen bubenhaften Charme bewahrt – und glänzt zudem in anspruchsvollen Charakterrollen. So schafft es Law auch – trotz geringer Leinwandzeit –, einen überzeugenden Putin zu spielen: scharfsinnig, grimmig, verschlossen, stets umgeben von der Aura unausgesprochener Bedrohung.
Und dabei verschwindet der 52-Jährige nicht unter einem Berg von Maske, Prothesen und Schminke, wie Sebastian Stan letztes Jahr in «The Apprentice». Die Geschichte des Aufstiegs des jungen Klinkenputzers Donald Trump zum Immobilienmogul weist Ähnlichkeiten zu der des Kremlmagiers auf. Auch sie hat mit Roy Cohn eine teuflische Beraterfigur, deren Gewissenlosigkeit ihren Preis fordert. Und wo in «The Apprentice» mit Ali Abbasi ein iranischer Regisseur die amerikanische Ellbogenmentalität auslotet, beleuchtet in «The Wizard of the Kremlin» ein französischer Regisseur die russische Seele.
Mehr Schulreferat als Thriller
Solche Blicke von aussen sind reizvoll, bergen jedoch Gefahren realitätsferner, klischeebehafteter Zuschreibungen. Gerade im Fall von Assayas wird schnell klar: Hier ist pure Phantasie am Werk. Wer wüsste schliesslich, was hinter der Schweigemauer des Kremls wirklich geredet wird? Bereits die Vorlage, der Roman des Italieners Giuliano da Empoli, ist Fiktion, erdacht von einem Autor, der Russland keineswegs herausragend kennt. Natürlich warnt der Vorspann: Achtung, alles erfunden. Dennoch wird sich der Teil des Publikums finden, der das Gezeigte für bare Münze nimmt. Ein absehbarer Skandal also, der Putin-Fans argumentativ Munition liefert?
Mitnichten. Abgesehen davon, dass die Moral in der Fiktion ohnehin ganz am Schluss kommt. Das Abscheuliche, Unerträgliche auszuhalten, ist erstes Gebot der Kunst. Doch leider bleibt der Erkenntnisgewinn bei «The Wizard of the Kremlin» überschaubar. Auch die Reaktionen in Venedig waren weitgehend eher ein Achselzucken denn Empörung: etwas Neues unter der russischen Sonne?
Zumindest nicht die biedere Inszenierung, mehr Schulreferat als Thriller. Brav wird jedes Kapitel des Romans abgefilmt, danach abgeblendet, weiter geht’s, exzesslos, ratlos, mutlos. Zwischendurch dokumentarische Aufnahmen. Und alle interessanten Passagen der Vorlage werden in gekünstelte Dialoge gepresst oder per Voice-over zitiert – somit kann man gleich das Buch lesen. Fast, als wollte sich Assayas bei diesem Thema und für seine erste englischsprachige Produktion, gedreht in Lettland, nicht die Finger verbrennen.
Obendrauf türmen sich die halbwahren Russland-Klischees aus dem Roman: das riesige Land sei ein einziges Gefängnis, seine Bewohner trauerten alle noch Stalins Knute hinterher. Am Schluss erweist sich ein Satz als richtig: Niemand ist in Russland sicher. Das hatte man sowieso befürchtet.