Die Frankfurter Institut für Sozialforschung ist aus der Geschichte Deutschlands nicht wegzudenken. Der Historiker Philipp Lenhard zeigt, wie es zur Gründung kam. Und dass das «Café Marx» nicht nur aus Horkheimer und Adorno bestand.
Die kritische Theorie hat sich immer als historische Wissenschaft verstanden. Nun ist sie selbst Gegenstand historischer Forschung geworden. Dies zeigt die Geschichte des Instituts für Sozialforschung, die der deutsche Historiker Philipp Lenhard vorlegt. Seine Kenntnisse auf dem Gebiet hat Lenhard vor allem mit Arbeiten über Friedrich Pollock bewiesen – die im Schatten von Horkheimer und Adorno agierende Gründungsfigur des Instituts für Sozialforschung, die über fünf Jahrzehnte die Geschicke des Instituts mitbestimmt hatte.
Lenhard rekonstruiert die Vorgeschichte des institutionellen Ortes der kritischen Theorie detailliert und beleuchtet auch die Rolle der Nebenfiguren. So arbeitet er heraus, welche wichtige Rolle der aus Wien stammende erste Direktor Carl Grünberg spielte. Als Herausgeber des «Archivs zur Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung» hatte sich der bekennende Marxist bereits einen Namen gemacht. Und er war überzeugt, dass ihm die Führungsposition im Institut zukomme.
Die Diktatur des Direktors
Der Marxist und Mäzen Felix Weil scheint diese Einschätzung nicht geteilt zu haben. Er war selbst wissenschaftlich ambitioniert und engagierte sich für eine philosophische Erneuerung des Marxismus. Und seinem finanziellen Engagement war die Gründung des Instituts zu verdanken, das von Kritikern und politischen Feinden schon bald flapsig als «Café Marx» bezeichnet wurde.
Als frisch berufener Institutsleiter sprach Adorno 1932 in seiner programmatischen Antrittsrede von der «Diktatur des Direktors». Das konnte nur ironisch gemeint sein. Denn inzwischen hatte sich der Kreis der Mitarbeiter mit Erich Fromm und Leo Löwenthal vergrössert und wissenschaftlich ausdifferenziert. Für die empirischen Projekte wie die Studie über Arbeiter und Angestellte oder über die Autoritätsstruktur in der bürgerlichen Familie waren die jeweiligen Initiatoren zuständig, die aber in engem Austausch mit Horkheimer und den anderen Mitgliedern standen. Dies war ein Markenzeichen des Instituts.
Lenhard zeigt anschaulich, wie das Institut im Alltag funktionierte, indem er von den Menschen erzählt, die für den Aufbau und den Betrieb zuständig waren. Selbst vom Hausmeister des Institutsgebäudes in der Viktoria-Allee ist ausführlich die Rede. Erstmals wird der Blick auf die Mitarbeiter wie die Soziologin Hilde Weiss, den Ökonomen Kurt Mandelbaum oder den Staatswissenschafter Richard Sorge gerichtet.
Treffpunkt Café Laumer
Sie spielten als Netzwerker eine wichtige Rolle und werden von Lenhard mit ihren politischen Verstrickungen und Lebensgeschichten dargestellt. Aber auch Studierende, Doktoranden und Stipendiaten porträtiert Lenhard knapp und treffend: den ganzen Kreis, der sich im Café Laumer im Frankfurter Westend traf. Dort redete man sich mit Karl Mannheim, Paul Tillich und selbstverständlich Horkheimer und Adorno über die Krise des Kapitalismus und den Begriff der Ideologie die Köpfe heiss.
Horkheimer und Pollock, die erlebt hatten, dass das Institut als kommunistisches Tarnunternehmen denunziert wurde, machten sich keine Illusionen, dass das Institut nach der Machtergreifung der Nazis keinen Bestand haben würde. Sie sollten recht behalten und schafften beizeiten grosse Teile des Institutsvermögens in die Schweiz.
Nach der Emigration in die USA lag der Schwerpunkt der Forschung auf der Analyse des Faschismus und des Antisemitismus. Wie Lenhard zeigt, bestimmten neben Adorno nun mehr und mehr auch die Politikwissenschafter Franz Neumann und Otto Kirchheimer die internen Diskussionen.
Zurück nach Deutschland
Die empirischen Forschungen hatten ihren Höhepunkt in der von Adorno mitverantworteten Studie über die «Autoritäre Persönlichkeit». Dagegen versuchte das fünfte Kapitel der von Horkheimer und Adorno gemeinsam verfassten «Dialektik der Aufklärung», eine Urgeschichte des Antisemitismus zu formulieren. Horkheimer und Adorno waren überzeugt, so Lenhard, dass die Herrschaftsform der spätbürgerlichen Gesellschaft «nur durch den Antisemitismus verstanden werden konnte».
Nicht alle Mitglieder des Instituts waren nach Kriegsende bereit, in das zerstörte und moralisch desavouierte Deutschland zurückzukehren. Umso grösser war das Verdienst derjenigen, die es taten. Den kritischen jüdischen Intellektuellen wie Adorno und Horkheimer ist es wesentlich zu verdanken, dass sich in der Nachkriegsgesellschaft ein Bewusstsein für den Zivilisationsbruch der Shoah bildete.
Das mühsam errungene Anerkennen der Schuld wurde für Deutschland mentalitätsprägend. Das war, wie Lenhard zeigt, nicht zuletzt ein Verdienst der Exponenten der Frankfurter Schule. Und es wurde eine Voraussetzung für die Demokratisierung der postfaschistischen Gesellschaft. Die demokratischen Errungenschaften gegen die Gefahr des Faschismus zu verteidigen, gehörte zum Programm der kritischen Theorie. Und es gehört zum noch heute lebendigen Erbe. Auch das zeigt Philipp Lenhard in seinem Buch.
Philipp Lenhard: Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule. C.-H.-Beck-Verlag, München 2024. 624 S., Fr. 41.90.