In seinem Roman «Videotime» erkundet Roman Ehrlich das verbotene Gelände einer Kindheit und Jugend. Offen bleibt dabei die Frage, ob der Schrecken der Filme jenen der Realität übertraf.
Manchmal kommt das Trauma der Kindheit auf leisen Sohlen daher, um dann durchs ganze Leben zu trampeln. Der sich erinnernde Erzähler in Roman Ehrlichs Roman «Videotime» hat genau aufgeschrieben, wie das geht. Mit dem Sohn das Autohausbesitzers musste er beim Fernsehen immer in Unterhosen auf dem Sofa sitzen, weil die Nieten der Jeans den Stoff hätten beschädigen können. So sass man von Filmen gebannt nebeneinander und fürchtete sich vor den Monstern der Splatter-Movies genauso wie vor der Gefahr, dass die nackten Beine die des Freundes berühren könnten. Es sind solche Szenen, die «Videotime» zu einer grossen Erzählung des Fürchtens machen, zu einem Buch, das die zarte Grenze zwischen Ich und Welt nachzeichnet.
«Videotime» hiess die Videothek, die in einer Blechbaracke der Kleinstadt untergebracht war, in die der Erwachsene zurückkehrt. Er will seinen kränklichen alten Vater besuchen, aber davor findet noch etwas statt, was man eine verzögerte Ankunft nennen könnte. Die Schauplätze früherer Jahre werden aufgesucht. Wie getrieben zieht der Erzähler von der Blechbaracke zu Spielplätzen und in die Wohnblockviertel, wo die Schulkameraden lebten.
Das Schauen ist auch ein Schauen tief hinunter in die Kinderseele. In eine Zeit, wo die diktatorische Ordnungsliebe der Provinz unheilvoll mit dem eigenen Wunsch nach Anarchie konkurrierte, dem Wunsch nach Übertretung väterlicher Gesetze. Diese Gesetze werden vom Erzähler und seinem Bruder planvoll gebrochen, wenn sie die verbotenen Videos aus Vaters Giftschrank holen. Von den Filmen aus der Videothek fertigt der pedantische Mann Raubkopien an und verzeichnet seinen Bestand in einem Ordner.
Was den Kindern nicht erlaubt ist, stammt aus dem Horror-Genre, zeigt Sternenkriege, Fantasy, Gewalt oder Pornografisches. Für die Kinder wird genau dieses Verruchte zum Sesam-öffne-dich des frühen Medienzeitalters. «Verstörende Bilder», «schneller Witz und unendlicher Verweisreichtum» versüssen lähmend langweilige Kindheitsnachmittage, bis die Schritte des Vaters auf der Treppe zu hören sind. «Ich wollte mehr schauen, mehr gezeigt bekommen, was sich anderswo abspielte, wo der Verkehr nicht beruhigt war und das Leben entfesselt.»
Der Horror des Alltags
Roman Ehrlich gelingt es in seinem Roman, auf grossartige Weise die Inhalte der verbotenen Filme mit der Wirklichkeit der Kleinstadt gegenzuschneiden. Detailreich werden Szenen aus «Total Recall», «The Thing», der «Unendlichen Geschichte» oder dem Arthouse-Porno «The Devil in Miss Jones» beschrieben.
Neben solchen Ungeheuerlichkeiten tut sich die reale Welt provinziellen Spiessertums auf, das täglich selbst Erlebte. Die grosse Frage von «Videotime» ist: Gibt es etwas dazwischen? Ist der eine Horror dem anderen nicht auf fatale Weise ähnlich? Kommt aus dem «schnellen Witz» der Filme nicht sogar eine Überlegenheit gegenüber allem, was in der Wirklichkeit schon nicht mehr lustig ist?
Der Roman ist auf seltsame und gleichzeitig berührende Art selbst komisch. Die kunstvoll verschraubten und beobachtungsgenauen Sätze des Erzählers geben den erinnerten Ereignissen etwas Surreales. Die Figuren sind wie gefilmt. Das Experiment, mit den Realitätsebenen zu spielen, geht voll auf, und dabei hat diese Geschichte auch auf der Handlungsebene ziemlichen Drive.
Nach einer gescheiterten Karriere bei der Bundeswehr ist der Vater Gefängnisaufseher geworden, was zu seinem diktatorischen Charakter passt. Die Mutter arbeitet in einer Übergrössenboutique. Der Bruder des leicht adipösen Erzählers soll nach Wunsch seines Erzeugers zum Tennisstar herangezüchtet werden. Nach einer Verletzung ist dieser Traum beendet.
Erotische Nachforschungen
Die Traumfamilie der Provinzstadt hat ein Autohaus und eine Riesenvilla. Während die Unternehmersgattin am Rande autoaggressiver Selbstverletzung von Schönheitsoperation zu Schönheitsoperation eilt, hat der Mercedes-Repräsentant nur sein Geschäft im Kopf. Wichtig in der Infrastruktur der Stadt ist auch das italienische Restaurant Cantina Continua. Die Besitzer heissen Continua, und Roman Ehrlich verzichtet hier nicht auf einen politischen Witz. Die Tochter heisst Lotta. «Lotta Continua», «der ständige Kampf», war eine ausserparlamentarische linke Gruppe im Italien der Studentenbewegung.
In Lotta hat man ein besonders schönes Beispiel «entfesselten Lebens». In ihrem Zimmer besteht sie darauf, dass sie und der Erzähler sich «ohne Sachen» sehen, und entwickelt im gemeinsamen Nacktsein eine grosse investigative Neugier: «Das Rätselhafte ihrer Motivation war für mich aufregender als der Anblick selbst.» Aufregenderes als diese erste erotische Erfahrung hat das Ich des Romans schon mit seinen VHS-Kassetten erlebt.
Roman Ehrlichs «Videotime» ist ein faszinierendes Nachdenken über existenzerschütternde Fragen, über die Schnittstellen zwischen Ich und Welt. Der Film ist hier das Medium, das es uns erlaubt, ganz ausser uns und doch ganz bei uns selbst zu sein. Wer wüsste in diesem Zustand noch zu sagen, wo die surreal provinzielle Provinz aufhört und der Horror-Movie beginnt?
Roman Ehrlich: Videotime. Roman. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2024. 368 S., Fr. 37.90.