Putin und sein Führungszirkel beschwören die angebliche Einheit des russischen und des ukrainischen Volks. Mittlerweile ist die Betonung einer exklusiven russischen Staatlichkeit zur Obsession geworden.
Eigentlich wollte Wladimir Putin vergangene Woche am Petersburger internationalen Wirtschaftsforum nur über die erfolgreichen Zahlen des Wachstums, über die tiefe Arbeitslosigkeit und über die Investitionen in die russische Infrastruktur sprechen. Unweigerlich kam aber die Rede bald auf den Krieg in der Ukraine.
Putin wiederholte seine Jeremiade über die Nato-Osterweiterung, über den angeblichen Putsch während des Euromaidans und über den Verrat des Westens. Auf die Frage, wo die russische Armee bei der Invasion stoppen werde, antwortete Putin: «Ich habe schon oft gesagt, dass ich die Russen und die Ukrainer für ein Volk halte. In diesem Sinne gehört die ganze Ukraine uns.» Es gebe eine alte Regel, die besage: «Wo der russische Soldat seinen Fuss hinsetzt, das gehört uns.»
Es schien Putin allerdings nicht aufgefallen zu sein, dass diese imperialistische Aussage in eklatantem Widerspruch zu seiner eigenen Kritik am westlichen «Neokolonialismus» stand. Putin hatte erneut seine Lieblingsthese von der «goldenen Milliarde» formuliert: Die westlichen Eliten hätten sich auf Kosten des globalen Südens bereichert.
Schwindende Soft Power
Putins angestrengter Auftritt vor einem zweit- und drittklassigen Publikum (als einziger ausländischer Staatschef war der indonesische Präsident angereist) machte ein weiteres Mal deutlich, dass Russland verzweifelt um seine schwindende Soft Power kämpft. Putin kann weder der Weltgemeinschaft noch der eigenen Bevölkerung eine überzeugende Vision präsentieren. Weil Russland die Zukunft abhandengekommen ist, wendet es sich zwanghaft der eigenen Vergangenheit zu und betreibt intensiv Geschichtspolitik.
Geschichte ist eine attraktive Machtressource: Sie ist billig, wirksam und lässt sich einfach bearbeiten. Diktatoren wissen, dass ihre demokratische Legitimation brüchig ist. Besonders deutlich zeigt sich dies in Russland, wo sich Putin im vergangenen März mit dem im doppelten Wortsinn phantastischen Resultat von 88,5 Prozent als Präsident wiederwählen liess. Man mag sich fragen, weshalb Putin diese Manipulationen und Fälschungen überhaupt nötig hatte. Er hätte auch eine offene Wahl gewonnen.
Die Antwort liegt darin, dass Putin sich als Verkörperung einer «volonté générale» sieht. Sein Wille ist der Wille des russischen Volkes, und der kann nur einheitlich sein. Damit aber das Volk weiss, was es überhaupt wollen soll, bedarf es einer ganzen Reihe von Polittechnologien.
Kurz nach dem Überfall auf die Ukraine führte das russische Bildungsministerium eine neue Schulzeremonie ein. Seit April 2022 beginnt in Russland jeder Schultag mit dem Hissen der Fahne und dem Absingen der Nationalhymne. Mittlerweile sind in Russland alle Unterrichtsmaterialien auf Linie gebracht worden.
Am vergangenen Sonntag traf sich Putin mit linientreuen Verfassern von historischen Schulbüchern. Die Gesprächsrunde bestand aus zwei Dinosauriern des russischen Wissenschaftsbetriebs, dem in der Rechtschreibung nicht ganz sattelfesten Bildungsminister Krawzow und dem abgehalfterten Kulturminister Medinski, der über eine Plagiatsaffäre gestolpert war.
Kritik an Lenins Sowjetföderalismus
Medinski ist das ideale Sprachrohr für die fixe Idee eines «russophoben Westens». Er promovierte 2011 mit einer Arbeit über «Probleme der Objektivität» in der Geschichtsschreibung der frühen Neuzeit. Er kritisierte die negative Darstellung Russlands in den Berichten westlicher Reisender. Später liess er seine «Forschungsergebnisse» in die Kinderbuchreihe «Mythen über Russland» einfliessen. Die Titel lauten: «Über die russische Trunksucht, Faulheit, schlechte Strassen und Dummköpfe», «Über das Völkergefängnis Russland» oder «Über den russischen Dreck und die ewige technische Rückständigkeit».
Am Sonntag gab Medinski nun Putins Theorie der «Einheit des russischen und des ukrainischen Volks» eine neue Wendung. Medinski wies auf einen alten Streitpunkt in der ukrainischen und der russischen Geschichtsschreibung hin. 1654 hatte sich der ukrainische Kosaken-Hetman Bohdan Chmelnizki mit einem militärischen Hilfegesuch an den Moskauer Zaren gewandt, um die Polen abzuwehren.
Lange Zeit hatte die russische nationalistische Geschichtsschreibung diese Annäherung als «Wiedervereinigung der Ukraine mit Russland» bezeichnet. Medinski kam nun im Gespräch mit Putin auf die gloriose Idee, man könne nicht von einer «Wiedervereinigung» sprechen, weil die Ukraine ja gar nicht über eine eigene Staatlichkeit verfügt habe und schon immer Teil Russlands gewesen sei.
Putin griff diese Steilvorlage erfreut auf und verwies darauf, dass alle «unabhängigen Staaten», die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden waren, ja gar nie «unabhängig» gewesen seien. Damit erneuerte Putin seine Kritik an Lenins Sowjetföderalismus, der eine «Zeitbombe» unter die «tausendjährige Staatlichkeit» Russlands gelegt habe. Als Hüter dieser eigenwilligen Geschichte verneint Putin alle Nationsbildungen, die sich im postsowjetischen Raum vollzogen haben und mittlerweile unumkehrbar sind. Nicht nur in Kiew, sondern auch in Minsk und Astana wird man solche Äusserungen sehr aufmerksam verfolgen.