Der chinesische Präsident Xi Jinping führt auf seiner Europareise die politischen Gräben auf dem Kontinent vor. Macrons europapolitische Visionen liegen weit von dieser Realität entfernt.
In Pomp, Pathos und Selbstbewusstsein ist der französische Präsident Emmanuel Macron unübertroffen: «Europa ist sterblich. Es kann sterben, und das hängt nur von unseren Entscheidungen ab.» Grandiose Inszenierungen wie seine grossspurig als «Sorbonne II» angekündigte zweistündige Rede von Ende April sind mehr als nur ein Zeichen französischer Überheblichkeit. Macron gelingt es damit, die Aufmerksamkeit der politischen Eliten auf sich zu ziehen. Er vertritt französische Interessen und nimmt Einfluss auf die politische Agenda der EU – mit grösserem Erfolg als seine Rivalen in Europa.
Zutreffende Diagnose der europäischen Schwächen
Macrons düstere Warnungen für Europas Zukunft sind gerechtfertigt. Er nennt drei existenzielle Risiken für den Kontinent; diese sind sicherheitspolitischer, wirtschaftlicher und innenpolitischer Natur.
Sicherheitspolitisch macht das russische Vorrücken in der Ukraine für alle sichtbar, was schon lange im Argen liegt: Europa liess seit dem Ende der Sowjetunion vor mehr als dreissig Jahren seine militärische Verteidigungsbereitschaft zerfallen. Jetzt sind gewaltige Anstrengungen nötig, um der Ukraine beizustehen, die eigenen militärischen Fähigkeiten wieder aufzubauen und Putins imperialistische Ambitionen abzuschrecken. Hinzu kommt ein dramatisch aufrüstendes kommunistisches China, das aggressiv den Aufstieg zur globalen Führungsmacht anstrebt.
Wirtschaftlich wird Europa bedrängt durch die trickreich aufstrebende Exportnation China und den unter den Präsidenten Trump und Biden zunehmenden Protektionismus der USA. Hinzu kommt die mangelnde europäische Innovationskraft in Zukunftsbranchen wie Mikroprozessoren, der digitalen Wirtschaft oder künstlicher Intelligenz.
Und innenpolitisch gewinnen in ganz Europa nationalistische und illiberale Parteien Auftrieb, welche die freiheitlichen Institutionen und Werte herausfordern.
Fehlende Rezepte Macrons
Aber mit welchen Rezepten will Macron den Kontinent vor dem Niedergang retten und in eine sichere Zukunft führen? Hier wurde seine Rede immer unklarer, je länger sie andauerte.
Vielem, was Macron zur Sicherheitspolitik sagt, ist beizupflichten. Zwar hatte er viel zu lange eine Politik des Appeasement gegenüber dem russischen Diktator Putin verfolgt. Zudem ist der Beitrag Frankreichs zur westlichen Ukraine-Hilfe kläglich. Doch immerhin erkennt er jetzt in dem Aggressor eine Gefahr für ganz Europa und ruft zu energischem Umdenken auf.
Sinnvoll sind auch seine Avancen gegenüber den Partnern innerhalb der EU, der Nato und der Europäischen Politischen Gemeinschaft, womit vor allem Grossbritannien gemeint ist. Eine engere Zusammenarbeit all dieser Kräfte ist für die europäische Verteidigungsfähigkeit essenziell. Dieser Grundsatz ist nicht neu, aber es könnte mehr und besser laufen. Richtig ist im Sinne der Abschreckung auch, dass Macron auf der Option beharrt, die Ukraine bei Bedarf auch durch westliche Truppen zu verteidigen.
Aber was würde sich nach Macrons Vorstellungen konkret ändern? Nicht viel. Er nennt ein paar bekannte Initiativen und Ideen wie einen europäischen Luftverteidigungsschirm, eine schnelle Eingreiftruppe oder gemeinsame militärische Ausbildungseinrichtungen. Seine Kernforderung ist allerdings primär finanzpolitischer Natur: die Finanzierung europäischer Rüstungsprojekte aus EU-Mitteln, das heisst durch neue gemeinschaftliche Schulden.
Ähnlich verhält es sich mit den wirtschaftspolitischen Visionen des Präsidenten. Auch hier konstatiert er zu Recht Probleme wie Überregulierung oder eine gewisse Naivität der europäischen Handelspolitik gegenüber den Grossmächten USA und China. Was dagegen tun? Macron plädiert für mehr Protektion, die zentrale Steuerung «europäischer Champions» in Schlüsselbranchen und – wen wundert’s – die gemeinschaftliche Finanzierung einer europäischen Industriepolitik.
Macrons Zukunftsvisionen laufen in der Forderung nach mehr Protektionismus und mehr Geld zusammen, das durch europäische Schuldtitel beschafft werden soll. Doch damit würden mehr Probleme geschaffen als gelöst.
Eine zentrale europäische Industriepolitik und eine gemeinschaftliche Fiskalpolitik bedeuteten eine markante Verlagerung von Entscheidungskompetenzen und Verantwortung nach Brüssel. Das setzt einen Grundkonsens für eine vertiefte politische Integration der Mitgliedstaaten voraus. Davon ist die EU weit entfernt.
China erkennt und nutzt Europas Spaltungen
Nichts zeigt dies deutlicher als die Europareise des chinesischen Staatschefs Xi Jinping in dieser Woche. Xi wählte dafür mit unfehlbarem Gespür drei Staaten aus. Diese verbindet nichts anderes als die perfekte Eignung für seine Strategie, den Zusammenhalt des westlichen Lagers zu spalten. Als Erstes beehrte Xi den französischen Präsidenten Macron mit einem Besuch, jenen Mann, der vehement die Emanzipation Europas von der Führungsmacht Amerika fordert und sich dafür von Chinas Staatsmedien feiern lässt.
Darauf folgten Serbien und das Gedenken an einen irrtümlichen amerikanischen Angriff auf die chinesische Botschaft in Belgrad vor 25 Jahren. Dies gab Xi Anlass zu heftiger Kritik an der Nato. Und zuletzt besuchte Xi Ungarn, dessen Ministerpräsident Viktor Orban die Chinesen mit offenen Armen empfängt und dafür mit hohen Investitionen belohnt wird. Im Gegenzug verteidigt Orban chinesische Interessen in Brüssel.
Macron befürwortet wie die EU-Kommission den Schutz der (französischen) Autoindustrie durch Zölle auf chinesischen Elektroautos. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz stellt sich dagegen, weil die deutsche Autoindustrie um ihre riesigen Investitionen in China bangt, und schlug Macrons Einladung zu einem gemeinsamen Treffen mit Xi in Paris aus. Xi kann zufrieden diesen Disput beobachten. Und Macron spielt Xis Spiel gerne mit – immerhin gelang es diese Woche dem Gastgeber, die Chinesen vorerst von einer angedrohten Behinderung der Einfuhr französischen Cognacs abzuhalten.
Wie soll sich ein derart von nationalen Interessen geleitetes Europa auf die Förderung europäischer Schlüsselindustrien einigen? Wie soll ein stark ausgeweiteter europäischer Haushalt sinnvoll in den Ausbau der militärischen Verteidigung investieren, die der nationalen Politik untersteht?
Verdrängte Erweiterung um die Ukraine
Bezeichnenderweise klammerte Macron das grosse Zukunftsthema der EU aus seiner Rede weitgehend aus: die von den Mitgliedstaaten beabsichtigte Erweiterung um die Ukraine und eine Handvoll weitere Staaten Osteuropas. Alles, was diese Erweiterungsrunde bedeuten wird, steht gegen Macrons Vision einer integrierten europäischen Fiskal- und Industriepolitik. Die Aufnahme der kriegsversehrten Ukraine mit ihren ursprünglich über 40 Millionen Einwohnern würde den EU-Haushalt und seine Transferleistungen auf den Kopf stellen. Wie sollten gleichzeitig neue Aufgaben für Verteidigung und Industriesubventionen finanziert werden?
Das wirft die Frage auf, wie ernst es Macron mit seinen sicherheitspolitischen Ermahnungen ist. Ja, Europa muss dringend die militärische Hilfe für die Ukraine ausweiten. Und ja, seine Regierungen müssen die Verteidigungsausgaben dramatisch anheben. Sie nähern sich dieses Jahr im Durchschnitt mit Ach und Krach der Marke von 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Vor dem Ende des Kalten Kriegs waren es mehr als 3 Prozent gewesen; diese Grössenordnung dürfte in der neuen Ära des russischen Imperialismus und der chinesischen Aufrüstung eine plausible Orientierungsgrösse sein. Das erfordert eine gigantische Umverteilung von Finanzmitteln.
Für diese Schritte ist allerdings keine gemeinschaftliche Finanzierung durch die EU nötig. Die Ukraine-Hilfe und die Verteidigung müssen in erster Linie von den nationalen Regierungen geleistet werden. Dass das geht, zeigen Staaten wie Polen, das bereits heute knapp 4 Prozent des BIP für die Verteidigung ausgibt, oder die baltischen Länder, die gemessen an der Wirtschaftskraft zu den grössten Unterstützern der Ukraine gehören. Deutschland wiederum sendet ein Mehrfaches an Militärhilfe nach Kiew im Vergleich zu Frankreich, dessen militärische Stärke Macron in seiner Rede so stolz hervorhob.
Für diese Kraftanstrengungen braucht es in erster Linie eine leistungsfähige Wirtschaft und gesunde Staatsfinanzen – und den politischen Willen der einzelnen Staaten. Auch dafür sind die nationalen Regierungen verantwortlich.
Frankreich ist soeben an der Rekordmarke von 115 Prozent Staatsschulden, gemessen am BIP, angelangt. Der Schuldenberg schränkt den Handlungsspielraum von Macrons Regierung empfindlich ein. Kein Wunder, dass er auf die europäische Haushaltkasse schielt, um sich Erleichterung zu verschaffen. Doch das führt nicht in die versprochene glänzende Zukunft, sondern in eine Schuldenspirale, für die niemand verantwortlich sein will, in Verteilungskämpfe, Wählerfrustration und Verschwendung. Die Querelen um gesperrte EU-Milliarden für Ungarn oder die Überforderung Italiens mit den Geldern des prall gefüllten EU-Aufbaufonds geben beredte Hinweise darauf.
Es ist unredlich, die nationale Verantwortung für Sicherheit und Verteidigung an eine diffuse Vision von «Europa» zu delegieren. Der Kontinent kann seinen Platz in der Welt nur auf der Basis starker, verantwortungsbewusster Mitglieder behaupten.