In einem kleinen Dorf in Polen begegnet die Kunst auf Schritt und Tritt der Politik, ob sie will oder nicht. Denn Krzyżowa, einst Kreisau, war einer der wichtigsten Orte des Widerstands gegen das «Dritte Reich». Ein Festival erinnert an diese grosse Tradition.
Was kann Musik schon ausrichten gegen den Krieg, das Töten, die Dummheit, Leid und Unrecht? Nichts. Die Musikgeschichte hat zwar jede Menge Kriegsmusiken hervorgebracht, Battaglien, Fanfaren und Märsche, die Truppen auf Trab brachten oder den Sieger feierten. Aber Friedensmusik kommt gegen diesen Gebrauchsmusiklärm nicht an. Musik für den Frieden: Das sind Appelle, Trost- und Klagemusiken. Das «Dona nobis pacem» verhallt, ohne Folgen. Darüber und über andere so grosse Fragen diskutieren die Musiker in Krzyżowa beim Lunch oder Frühstück. An diesem Ort ist das nichts Ungewöhnliches.
Krzyżowa ist ein alter Gutshof – ein für die Gegend, die früher Niederschlesien hiess, typischer «Vierseithof». Er wurde erbaut Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, zu einer Zeit, als man noch Wert legte auf goldenen Schnitt und menschliches Mass, selbst wenn es die Kuh- und Pferdeställe betraf. Heute gibt es hier Gästezimmer, Tagungsräume, eine Sporthalle, einen Konzertsaal. Und in der Mitte der Häuserzeilen breitet sich ein fussballfeldgrosser Rasen aus, auf dem sich am 12. November 1989 Tausende versammelten, um eine «Versöhnungsmesse» zu feiern, mit dem deutschen Kanzler Helmut Kohl und dem polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki.
Früher wohnte hier das Geschlecht derer von Moltke, damals hiess Krzyżowa noch Kreisau. Deshalb wurden die konspirativen Treffen der Hitler-Gegner, die im benachbarten Berghaus ab 1940/41 stattfanden, von der Gestapo «Kreisauer Kreis» genannt. Als sie 1944 aufflogen, bezahlten fast alle Widerständler ihre Zivilcourage mit dem Leben.
Grenzüberschreitung
Die Abschiedsbriefe, die Freya von Moltke an ihren verhafteten Mann Helmuth James schrieb und dieser an sie, füllen fast 600 Buchseiten. Man liest sie durch in einer einzigen Nacht. Einmal angefangen, kann man diese atemberaubenden Kassiber über Liebe und Tod, aber auch Hoffnung nicht mehr aus der Hand legen. Tagsüber möchte man dann am liebsten die Welt draussen vergessen. Das ist allerdings unmöglich, denn es treffen immer mehr Menschen ein in Kreisau, junge Musiker aus aller Welt, aber auch ältere, die «Mentor» und «Senior» genannt werden.
Seit 1994 wird Krzyżowa als Begegnungsstätte einer «Stiftung für Europäische Verständigung» genutzt, die sich insbesondere um die Jugendarbeit kümmert, aber auch die deutsch-polnische Aussöhnung voranbringen will. Wie sich dieser Tage herausstellt, im ersten Symposion des diesjährigen Festivals «Krzyżowa Music – Musik für Europa», ist dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen.
«Krzyżowa Music», gegründet 2014 von der Geigerin Viviane Hagner und dem erfahrenen Intendanten Matthias von Hülsen, orientiert sich am basisdemokratischen Modell des amerikanischen Marlboro-Festivals. Und beruft sich, im Untertitel, auf die europäische Idee. Die Symposien dazu werden von dem «Senior»-Cellisten Alexey Stadler organisiert, der aus Sankt Petersburg kommt und heute in Hamburg lebt. Er setzt diesmal ein komplexes Thema auf die Tagesordnung: Inwieweit verändert Grenzüberschreitung die kulturelle Identität?
Und plötzlich geht es um etwas, das Idyll bekommt Risse. Ein Historiker wird bei der Diskussion scharf kritisiert von einem Musiker. Beide sind Polen, beide haben deutsche Vorfahren. Der eine erläutert die Umsiedlungsmassnahmen der Siegermächte mithilfe bunter Grafiken. Der andere ruft: Das sei eine Verharmlosung, hundert- und tausendfach hätten sich damals Tragödien abgespielt, in der deutschen und in der polnischen Bevölkerung.
Tags darauf wird weiter gemeinsam geprobt. Aus allen Fenstern singt und fiedelt es. In Saal A auf der Pferdestallseite übt praktischerweise ebenerdig die Harfe. Aus dem sogenannten «Clubraum» dringen Fetzen einer rhythmisch vertrackten Streichermusik. Im «Ballroom» gegenüber, einst Speisezimmer der Moltkes, coacht der Schweizer Klarinettist und Mentor Reto Bieri vier «Juniors».
Es geht um das Klarinettenquintett des britischen Komponisten Samuel Coleridge-Taylor. Der muss ein begnadeter Melodienerfinder gewesen sein. Bieri ist ein Feuerkopf, seine Mitstreiter müssen mit der Direktheit seiner Musizierweise erst einmal klarkommen: Die Geigerinnen Fanny Fheodoroff (Österreich) und Patricia Cordero (Spanien) sind ehrgeizig, sie wetteifern miteinander, jeder Strich, jede Farbe wird auf die Goldwaage gelegt. Der Cellist Gustaw Bafeltowski (Polen) hat die Ruhe weg, die Bratscherin Hayang Park (Korea) ist alles andere als entspannt. Tage später, im Konzert, ist das Klangbild dann ideal zusammengewachsen.
Die Kunst des Zuhörens
Das Besondere an diesem Musikfestival ist, dass auch Publikum zuhören darf bei den Proben. Damit wird die Kunst des Zuhörens weitergegeben und trainiert, die sowieso jeder, der Musik macht, von Anfang an lernen muss und intus hat. Fremde Stimmen zulassen, dabei die eigene Stimme behaupten in einem Diskurs, der die gemeinsame Sache, um die es geht, höher schätzt als den Auftritt des Einzelnen: Das ist nicht nur eine Kulturtechnik, die in der Musik gefragt ist. Sie kann auch im demokratischen Prozess nützlich sein.
Wenn dann die öffentlichen Konzerte beginnen, wird es hektisch auf dem Gelände. Nicht alle finden in Krzyżowa statt, wo das angereiste deutsche Publikum untergebracht ist. Durch Gastkonzerte in der Umgebung ist es gelungen, auch ein polnisches Publikum für das Projekt zu interessieren. Das Eröffnungskonzert findet etwa in der spektakulären alten Fachwerkkirche von Świdnica (Schweidnitz) statt. Das Programm umfasst Bekanntes und Unbekanntes, es wird kurzfristig festgelegt, je nach erreichtem Probenstand. Guckt man auf den Konzertzettel, denkt man sich: Nanu? Was hat Bach mit Ravel zu tun? Und dieser mit Szymanowski?
Aber es gibt doch jedes Mal Kriechströme zwischen den Stücken: rote Fäden, die das Fremde mit dem scheinbar Bekannten verbinden. Auch das gehört zum Geist dieses Orts. Wie der Text, den Reto Bieri am nächsten Tag mitbringt, zwei Seiten hat er verfasst zum Thema, wozu Kunst nützlich sei. Darin heisst es: «Kunst ist Überfluss. Verschwendung. In dieser Welt steht die Kunst wie ein Irrtum herum. Aber sie ist auch Störung, sie lässt uns nicht, wie wir waren.»