Um das Haar auf dem Kopf kümmert man sich ausgiebig. Hat es einmal seine Wurzeln verlassen, wird es zu Abfall. Jetzt spielt menschliches Haar eine immer grössere Rolle in der derzeitigen Mode.
Auf den Laufstegen der kommenden Herbst/Winter-Saison fiel vor allem eines auf: Der Pelz ist zurück. Als Anhänger, Tasche, Jacke. Alles ist weich, flauschig – und gleichzeitig unmissverständlich rückschrittlich. Hatte man sich nicht längst darauf geeinigt, Pelz aus der Mode zu verbannen? Doch nicht nur Tierhaar, echt oder aus Plastik, wächst überall hervor. Auch künstliches und natürliches menschliches Haar taucht seit einigen Saisons immer öfter in Modekollektionen auf, was teilweise zunächst etwas makaber wirkt.
Für ihre Winter-2025/2026-Kollektion «Venus in Chaos» entwarf die türkisch-britische Designerin Dilara Findikoğlu einen speziellen Look: Die rote Haarpracht eines Models wurde künstlich verlängert und um seinen Körper drapiert, bedeckte nur die nötigsten Stellen, wie bei Botticellis Venus. Das Haar der Models spielte generell eine Hauptrolle, wurde maskenartig über das Gesicht geflochten, bedeckte Brüste und Schambereich. Zöpfe wurden zu Corsagen zusammengesetzt, eine Haar-Jacke vermischte sich mit dem blonden Haupthaar des Models. Wo fängt die Jacke an? Wo hören die Haare auf? Unmöglich zu erkennen.
Dunkles und Groteskes ist gefragter denn je und spiegelt gut die düstere Weltlage wider, in der wir uns befinden. Die Margiela-Tabi-Boots deuteten darauf schon seit einigen Jahren hin. Auch die Maison-Margiela-Couture-Kollektion unter John Galliano vom Januar 2024 untermalte die Tendenz. Ebenfalls vor einem Jahr zeigten Jil Sander, Marni und Prada strähniges Haar in Accessoires und Kleidern, das sich von dem bekannten Pelzbesatz unterschied. Simone Rocha präsentierte in ihrer Gastkollektion für Jean Paul Gaultier Couture Haarschleifen- und Haardutt-Ohrringe. Daniel Roseberry wiederum bei Schiaparelli Krawatten aus geflochtenen Haarsträhnen. Schuhe mit langem, glattem Fellbesatz häufen sich. Die haarigen Objekte faszinieren – und haben eine lange Geschichte.
Es ist eine direkte Referenz zur viktorianischen Ära auszumachen. Die Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts war von Königin Viktoria als sogenannter Monarchin der Trauer geprägt. Nach dem Tod ihres Ehemanns trug sie bis zu ihrem Lebensende Witwentracht und ein Medaillon mit seiner Locke darin. Ein Accessoire, das zu jener Zeit gross wurde, waren aus Draht geflochtene Schmuckstücke, in die die Haare verstorbener Angehöriger verwebt wurden.
Broschen, Kränze, Anhänger, Armbänder – Schmuck aus Haaren galt als so modisch wie sentimental und beständig. Er zeigte die Verbindung zu Verstorbenen, konnte jedoch auch zwischen lebenden Personen ausgetauscht werden. Später kam das haarige Handwerk aus der Mode, schien unhygienisch. In der Modegeschichte aber blitzte die Faszination für das menschliche Haar immer wieder auf.
Der Gipfel des Haar-Hypes
In Alexander McQueens Abschlusskollektion «Jack the Ripper Stalks His Victims» (1992) wurde Menschenhaar verarbeitet. Für McQueen war es auch in späteren Kollektionen typisch, sich auf makabre historische Ereignisse zu beziehen, so stellte er einen Bezug zu den Opfern von Jack the Ripper her, aber ebenso zu der viktorianischen Zeit und den in Plexiglas eingeschlossenen Haarlocken. Martin Margiela verflocht ebenso Haare in seiner Mode ab den 1990er Jahren. In seiner Kollektion für den Sommer 2009 gipfelte der Haar-Hype in einem kurzen Mantel, ganz aus blonden Perücken gefertigt. Gucci zeigte 2017 Zebra-Pumps mit einem schwarzen Pferdeschwanz, Helmut Lang 2004 die «D’Orsay Sandal» mit gleicher Frisur. In den späten 2010er Jahren bestanden Ohrringe bei Hussein Chalayan aus abgeschnittenen Strähnen, Missoni und Dior schmückten die Köpfe ihrer Models mit künstlich angehängten Haarsträngen.
In den letzten Jahren haben aufstrebende Designer sich dazu immer öfter dem menschlichen Haar als Rohmaterial gewidmet. Wir nehmen Tieren ihre Wolle, aber schauen mit leichtem Ekel auf abgeschnittenes Menschenhaar – dabei könnte es eine nützliche Ressource sein? Das dachte sich zumindest Zsofia Kollar, Co-Gründerin des Startups «Human Material Loop». 72 Millionen Kilogramm menschlichen Haares sollen laut ihr jährlich auf Mülldeponien landen. Als ersten Prototyp produzierte das Unternehmen einen Wollpullover, der sich von einem aus Schafwolle offenbar nicht beträchtlich unterscheidet: Beide bestehen aus einer Keratinproteinfaser, sind biologisch abbaubar und halten warm.
Und trotzdem: Menschliches Haar ausserhalb seines originalen Kontexts kommt mit einem morbiden Nachgeschmack daher, an den man sich gewöhnen muss. Der Mode verpasst künstliches, aber vor allem echtes Menschenhaar etwas Avantgardistisches, einen Fetisch-Touch. Man könnte es als den politisch korrekten Pelz der Unangepassten verstehen. Und mit nur einem feinen Schnitt ist man Teil des Trends.