Eine Schifffahrt mit Urs Steiger, dem obersten Landschaftsschützer am Vierwaldstättersee.
Das Wetter lädt an diesem trüben Mittwoch nicht gerade zu einem Ausflug auf dem Vierwaldstättersee ein. Entsprechend spärlich besetzt ist das Kursschiff von Flüelen nach Brunnen. Doch es ist nicht der Nebel, der Urs Steiger vor zu hohen Erwartungen warnen lässt. «Wer länger nicht mehr in der Innerschweiz war, ist oft entsetzt. Man hat das Seeufer als Idylle in Erinnerung und stellt fest, dass vieles verschandelt wurde.»
Steiger muss es wissen. Als Präsident des Landschaftsschutzverbands Vierwaldstättersee (LSVV) kämpft er seit neun Jahren zusammen mit seinen Vorstandskolleginnen und -kollegen für den Erhalt der Seenlandschaft. Auf der rund zweistündigen Schifffahrt will er zeigen, was hier in Gefahr ist und wo die Landschaftsqualität massiv gelitten hat. Mit weniger als 30 Kilometern pro Stunde geht es vorbei an Erfolgen und Misserfolgen seines Verbandes, der vor 40 Jahren gegründet wurde. Es gibt kaum ein grösseres Objekt am Ufer, zu dem Steiger keine Geschichte erzählen könnte.
Wir fahren durch eine der wertvollsten Landschaften der Schweiz. Das sagt nicht Steiger, sondern das Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler. Mit Ausnahme des Luzerner Seebeckens, das wir bereits hinter uns haben, ist alles von nationaler Bedeutung und steht unter besonderem Schutz. Hier ist alles aufgeladen, landschaftlich, historisch, ja sogar mythisch. Wer in der Nähe des Rütlis, auf der Rigi oder am Urnersee baut, bekommt es in der Regel mit dem LSVV zu tun. Als «Investorenschreck» hat die «Luzerner Zeitung» den von Steiger geleiteten Verband schon bezeichnet.
Zu seinen Erfolgen gehören aber nicht nur verhinderte Bauvorhaben wie die geplante Erweiterung eines Segelboothafens in der Stadt Luzern. Auch eigene Projekte wie die Wiedereröffnung des Felsenwegs am Bürgenstock oder die Schaffung des Waldstätterwegs 1991 in Zusammenarbeit mit Bund, Kantonen und Gemeinden stehen auf der Liste. Sein Verband sei dialogorientiert, sagt Steiger. «Wir suchen das Gespräch und unterstützen Gemeinden und Investoren dabei, Projekte qualitativ hochstehend und damit landschaftsschonend zu realisieren.»
In ein oder zwei Fällen pro Jahr führt der Dialog nicht zum Ziel, und der Landschaftsschutz greift zum letzten Mittel, das ihm zur Verfügung steht: der Beschwerde. Oft mit Erfolg. So auch im traditionsreichen Bade- und Erholungsort Hertenstein, den wir nach einer halben Stunde erreichen. «Wäre es nach dem Investor Peter Pühringer gegangen, stünden hier mitten in dieser wunderschönen Landschaft zwei 50 Meter hohe Türme», erinnert sich Steiger.
Der österreichische Multimillionär hatte im Jahr 2008 als einer der Ersten eine Idee, wie man aus einer direkt am See gelegenen Hotelanlage möglichst viel Profit schlagen kann: Indem man sie in Wohnungen umwandelt und mit anderen Nutzungen wie etwa einer Klinik ergänzt. Inzwischen seien dieses Businessmodell und damit Spekulationen mit Hotelanlagen fast schon an der Tagesordnung, bedauert Steiger, der auch politisch aktiv ist.
In seinem Wohnort Horw (LU) war er 1986 Mitbegründer der Partei L20. Die Gruppierung, für die er lange im Gemeinderat sass, vernetzt laut Website «ökologisch, sozial und kulturell engagierte Menschen mit klaren Vorstellungen, aber fern von ideologischen Graben- und Machtkämpfen». Das klingt wie eine Selbstdarstellung Steigers. Auch Hartnäckigkeit gehört zu seinen Eigenschaften.
Einige Jahre später nahm Pühringer einen neuen Anlauf für einen riesigen Hotelneubau. Doch auch aus dem «Aztekentempel», wie ihn Steiger aufgrund seiner besonderen Form nennt, wurde nichts. Nicht konform mit dem Landschaftsschutz, befand die Gemeinde Weggis (LU). Beraten wurde der Gemeinderat bei diesem Entscheid unter anderem von Urs Steiger und seinem Verband.
Nicht glücklich ist Steiger mit dem inzwischen abgeschlossenen moderaten Umbau des Hotels Hertenstein in eine Klinik und Wohnung. Die gewählte Architektur mit vielen weissen Gebäudeteilen gefällt ihm nicht. «Hier haben wir unsere Mitsprache verpasst.» Ansprechend gelungen sei dagegen der Erweiterungsbau etwas weiter weg vom Seeufer. «Bei diesem Projekt wurden wir rechtzeitig eingebunden, und unsere Architekturgruppe konnte entscheidend mitwirken», sagt Steiger.
Mit den Fachgruppen für Architektur, Raumplanung und Landschaft haben Interventionen des LSVV Gewicht. Steiger ist als Geograf und Inhaber eines Büros für Wissenschafts- und Verwaltungskommunikation selber ein Profi. Er leitete die Öffentlichkeitsarbeit mehrerer Nationaler Forschungsprogramme zur nachhaltigen Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung sowie zur nachhaltigen Bodennutzung.
In der Blütezeit des Tourismus habe man den Investoren exponierte und sensationelle Lagen für ihre Hotels zur Verfügung gestellt, bilanziert Steiger. «Dahinter stand die Idee, dass die Gäste, aber auch die einheimische Bevölkerung die grosszügigen Parkanlagen zur Erholung nutzen kann», stellt Steiger fest. «Heute ist der Tourismus individualisierter und will sich abschotten. Diese Privatisierung des öffentlichen und halböffentlichen Raums bedeutet einen starken Verlust an Landschaftsqualität», sagt er.
Bestes Beispiel für diese Entwicklung ist das schlossartige Park Hotel in Vitznau (LU), ein weiteres Pühringer-Objekt, das wir wenige Minuten später passieren. Hier konnte der wohlhabende Fondsmanager seinen Traum von einem Luxushotel der Extraklasse doch noch verwirklichen. «Im privaten Gästehaus Park Hotel Vitznau geniessen Sie ungestörte Momente in absoluter Privatsphäre», wirbt das Fünf-Sterne-Haus mit integrierter Klinik auf seiner Website.
«Manche wohlhabenden Manager igeln sich rund um den See hinter den Hecken ein. Oft weil sie es kulturell so gewohnt sind», sagt Steiger. Die Landschaft verliere so an Transparenz und Durchgängigkeit. Abschreckende Beispiele gebe es genug. Er verweist auf die «durchschnittliche und unterdurchschnittliche Architektur» der Villen am Rigihang oberhalb von Vitznau. «Da ist einiges schiefgelaufen, aber wir können auch nicht überall eingreifen», bedauert er.
In der Verantwortung sieht er in erster Linie die Politik: «Um die Landschaft und ihre Qualität müssen sich vor allem die Gemeinden kümmern. Noch immer werden zu viele Grundstücke verscherbelt.» Es handle sich um weltweit einmalige Lagen, für deren Bebauung hohe Qualitätsansprüche an die Bauherren und Architekten gestellt werden müssten. «Aus Angst, einen sehr guten Steuerzahler zu verlieren, wird das nicht gemacht. Aber der nächste gute Steuerzahler, der bereit ist, in die Qualität der Landschaft zu investieren, kommt bestimmt», ist Steiger überzeugt.
Inzwischen hat sich der Nebel etwas gelichtet, und statt Villen zieht die weitgehend unverbaute Landschaft unterhalb von Seelisberg (UR) vorbei. Ein paar hundert Meter weiter oben liegt das nächste grosse Feld der Auseinandersetzung für Urs Steiger und seinen Verband: der Sonnenberg. Die Hotelanlage aus dem 19. Jahrhundert, in der während Jahrzehnten die Yogis des Gurus Maharishi ihre Höhenflüge machten, soll wieder zum Leben erweckt werden.
Eigentlich eine löbliche Sache, aber so gehe es nicht, erklärt Steiger. «Wir befinden uns hier in einem absolut sensitiven Landschaftsraum direkt oberhalb des Rütlis. Darauf nimmt die Besitzerin keine Rücksicht.» Statt den Landschaftsschutz und andere Interessengruppen und Fachgremien frühzeitig einzubeziehen und so mit ihnen ins Gespräch zu kommen, habe der Investor ein Projekt präsentiert, das so ziemlich allem widerspreche, was man sich unter guter architektonischer und landschaftlicher Qualität vorstelle. Der LSVV hätte an diesem Standort von den Investoren einen Architekturwettbewerb erwartet, vor allem um das verträgliche Volumen zu eruieren.
Steiger schüttelt den Kopf darüber, dass die Gemeinde Seelisberg ein solches Projekt überhaupt auflegt. «Ich verstehe auch nicht, warum sie ein bereits vorliegendes Gutachten der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission (ENHK) zurückhält.» Warnungen würden ignoriert und den Umweltverbänden der Schwarze Peter zugeschoben, wenn es zu Einsprachen käme.
Im Fall von Seelisberg hat der LSVV kein Einspracherecht, aber dies könnten andere Naturschutzorganisationen machen, meint Steiger. «In den vergangenen Jahren hat sich die Zusammenarbeit mit vielen Gemeinden stark verbessert. Immer mehr Politiker in den Kommunen erkennen wieder den Wert, den die Landschaft hat», anerkennt Steiger. Eine hohe Landschaftsqualität ist für ihn Ausdruck einer «Good Governance».
«Es gibt aber immer noch einige, die es auf die harte Tour erfahren müssen.» Dazu gehören aus seiner Sicht Samih Sawiris und der Kanton Uri. «Eine Marina hat am Urnersee schlicht und einfach nichts zu suchen», sagt Steiger. Er meint das Projekt in der Isleten. Der Bau eines Hafens wäre ein massiver Eingriff in diese Landschaft, mitten in einem Schutzgebiet von höchster Bedeutung.
Steiger und sein Verband können nicht verstehen, warum der Kanton Uri bisher kein ENHK-Gutachten eingeholt hat. «Dieses würde mit grösster Wahrscheinlichkeit zeigen, dass das Sawiris-Projekt absolut chancenlos ist. Man könnte sich also viele Kosten und Ärger ersparen.» Die Urner Regierung betont, dass man sich des Wertes dieser Landschaft sehr wohl bewusst sei. Die Pläne von Sawiris böten die Chance für eine umfassende Renaturierung dieses Gebietes. Ein ENHK-Gutachten werde man im Rahmen der Vorprüfung zur geplanten Anpassung des kantonalen Richtplans einholen.
Sollte das Hafenprojekt nicht in der Volksabstimmung scheitern, die voraussichtlich im November 2024 stattfinden wird, will der Landschaftsschutzverband rechtlich dagegen vorgehen. «Ich zähle in dieser Angelegenheit auf das Bundesgericht», sagt Steiger. «Das oberste Gericht hatte in solchen Fällen bisher immer eine klare Haltung.»
Inzwischen sind wir in Brunnen angekommen. Urs Steiger hätte noch viel zu erzählen. Doch er muss an eine Sitzung, und zwar im Hotel Waldstätterhof, wo der LSVV am 8. Juni 1984 gegründet wurde und die Jubiläumsfeierlichkeiten stattfinden werden. Eines ist sicher: Der Landschaftsschutzverband Vierwaldstättersee und Urs Steiger werden auch danach wachsam bleiben und Alarm schlagen, wenn sie es für nötig halten.