Kann man sich etwas Langweiligeres als ein Puzzle mit tausend Teilen denken? Doch gibt es nichts Vergnüglicheres als einen Roman über solche Puzzles, sofern Wolf Haas ihn geschrieben hat.
Unter den Möglichkeiten, drogenabhängig zu werden, scheint sie eine der mildesten Varianten: die Puzzlesucht. Nie hat man von Menschen gehört, die sich in Selbsthilfegruppen treffen, um von einem lebensüberschattenden Bildzusammensetzzwang wieder loszukommen.
Nach der Lektüre des neuen Romans von Wolf Haas muss man die Gefahren eindeutig neu bewerten. In «Wackelkontakt» geht es um einen Mann, der wegen des speziellen Hobbys die Herrschaft über sein Dasein zu verlieren droht. Aber diese scheinbar harmlose Geschichte ist wie jede des österreichischen Schriftstellers auch noch doppelt gemoppelt. Ein Puzzle für sich, das süchtig macht.
Noch nach der zweiten oder dritten Lektüre bleibt die Spannung: Fehlt irgendwo ein Teilchen in diesem Buch, oder ist es ganz und gar perfekt? Kann man einen Roman schreiben, der aus dem witzigsten Blödsinn auch noch so etwas wie hermeneutische Klugheit zaubert? Wolf Haas kann das.
Und das geht ungefähr so. Franz Escher ist ein Mann um die fünfzig, der versucht, als Trauerredner über die Runden zu kommen. Als junger Mann hat er einmal ein Puzzle geschenkt bekommen. M. C. Eschers Bild von den Händen, die sich gegenseitig zeichnen. Seitdem kann er nicht aufhören, in Tausende Teile zerschnipselte Werke aus der Kunstgeschichte vor sich auf dem Boden auszubreiten und wieder etwas Ganzes daraus zu machen.
Ein toter Elektriker
Natürlich ist die Sache mit dem Namen Escher eine symbolische Leuchtrakete in diesem Treppenwitz-Roman. Er ist verschachtelt wie die Bilder des niederländischen Künstlers. Wegen eines Wackelkontakts in der Küchensteckdose hat Escher einen Termin mit einem Elektriker vereinbart, der mit der üblichen Handwerkerverzögerung auch kommt, allerdings länger bleibt als erhofft. Aus Unachtsamkeit hat Escher die Sicherungen der Wohnung wieder hochgeschoben. Von der Küche her ist ein dumpfes Geräusch zu hören. Der Elektriker liegt tot auf dem Boden.
Die alarmierte Polizei schätzt die Sache als einen vom Handwerker selbst verschuldeten Betriebsunfall ein. Halb aus Neugier, halb aus schlechtem Gewissen nimmt Escher Kontakt zur Witwe des Toten auf. Er möchte die Trauerrede halten. Er braucht biografischen Stoff, verwertbares Material. Wie nahe er diesem ohnehin schon ist, kann Haas’ in Wien beheimateter Puzzlefan hier noch nicht ahnen.
Gleich mehrere Geschichten bewegen sich im Roman aufeinander zu. Es ist wie bei den paradoxen Bildern von M. C. Escher. Man starrt auf die unmöglichsten Handlungskonstellationen und wandelt durch ein labyrinthisches Gewirr, dem man allerdings mehr und mehr vertraut.
Die Figuren in «Wackelkontakt» sind allesamt auch Leser. Der wienerische Escher liest alles über die italienische Mafia. Sachbücher, Romane. Während er auf den Elektriker wartet, ist er gerade an der abenteuerlichen Geschichte eines gewissen Elio Russo dran. Dessen Ingenium war in den Kreisen der ’Ndrangheta berühmt und in der Justiz gefürchtet. Gino, Boss der Bosse, entkam dem Gefängnis durch einen ausgeklügelten Plan Russos. Per Drohne wurde ein Scheintodmedikament in die Anstalt geschmuggelt.
Der scheinbar Tote fuhr im Leichenwagen in die Freiheit, musste sich seither aber in seiner luxuriösen, von Russo mit allerlei technischen Spielereien versehenen unterirdischen Wohnung versteckt halten.
Abgründig verwirrend
Versteckt auf etwas andere Art hält sich seit einiger Zeit auch Elio Russo. Weil er alle Mafia-Bosse ausser Gino verraten hat, wurde ihm von den Ermittlern Kronzeugenstatus zuerkannt. Er streift die bisherige Identität durch einen fingierten Selbstmord ab und bekommt vom plastischen Chirurgen ein neues Gesicht. Als Marko Steiner gelangt er nach ein paar Knicken in der Biografie nach Wien. Sein handwerkliches Geschick hat er auch hier nicht verloren und beginnt sein Leben neu zu verkabeln. Auch Marko Steiner liest: ein seltsames Buch über einen wenig erfolgreichen Menschen namens Escher, der sich als Trauerredner verdingt.
«Wackelkontakt» ist ein Roman wie ein Möbiusband. Man kann zwischen Innen und Aussen nicht unterscheiden, zwischen Literatur und Wirklichkeit. Das geht so lange, bis Escher ungeduldig das Buch über den Mafioso befragt, um etwas über seine eigene Zukunft zu erfahren. «Er wollte wissen, wie der Dreck weiterging», heisst es ziemlich zur Hälfte des Buches von Wolf Haas.
Viel weiter kann man hier die Handlung auch nicht nacherzählen, ohne ein geniales Prinzip literarischer Allmählichkeit zu zerstören. Wie beim Zusammensetzen eines Puzzles ergibt sich erst am Ende ein komplettes Bild. Dass auch dieses Bild so abgründig paradox ist wie eine Figur von M. C. Escher, verwundert nicht.
Wo beginnt dieser Roman, wo hört er auf? Hier gibt es den schnoddrigen Sound, den man aus Haas’ «Brenner»-Romanen kennt, aber auch ein gewitztes Spiel mit literarischen Traditionen. Der Semiotiker Umberto Eco ist bei diesem Steckdosen-Drama genauso Pate gestanden wie Italo Calvino mit seinen postmodernen Spielen der Intertextualität.
Spielen Augentäuschungen der Literatur in «Wackelkontakt» eine grosse Rolle, so tun es die der Malerei nicht minder. Unfreiwillig planvoll scheint sich Franz Escher durch die Kunstgeschichte zu puzzeln, und Wolf Haas hat hier die schönsten Ostereier versteckt. Das «Selbstporträt im konvexen Spiegel» des manieristischen Künstlers Parmigianino schaut den Leser hier bedeutungsvoll an. Parmigianino hat sich beim Zeichnen gemalt, so wie sich Haas’ Roman bei seiner eigenen Entstehung zuschaut.
Fehlende Puzzleteile
Besonders pfiffig sind die Witze, die in «Wackelkontakt» über das Substanzielle in der Kunst gemacht werden. Tausend Teile sollte das Puzzle mit Michelangelos «Die Erschaffung Adams» haben, in der Packung fehlt allerdings eines. Genau jenes, auf dem sich die Zeigefinger Gottes und Adams fast berühren. Was wäre das Deckenfresko ohne diesen gemalten Augenblick, ohne dieses epiphanische Puzzlestück der Schöpfung?
Den gleichen Spass erlaubt sich Wolf Haas auch noch mit Gustave Courbets «Der Ursprung der Welt». Man muss nicht lange raten, welches Teil aus dem Werk skandalumwitterter Nacktmalerei hier fehlt und damit den Franz Escher aus Wien zur Verzweiflung bringt.
Der neue Haas funktioniert nach dem berühmten «Brenner»-Prinzip: Jetzt ist schon wieder was passiert. Fragen von Witwentrauer, Blutrache und Lösegeld stehen plötzlich in Eschers Leben zur Disposition. In den luxuriösen Versteckhöhlen kalabrischer Mafiabosse wird der Gelegenheitstrauerredner eines besonders kruden Beispiels der Puzzlekultur ansichtig. Hier liegt es, das von der Mafia gestohlene und zerschnittene Werk «Christi Geburt mit den Heiligen Laurentius und Franziskus» von Caravaggio.
Es gilt als verschollen, aber Wolf Haas weiss, wo es ist: in seinem Roman, diesem furiosen Werk der Anspielungen und Verschleifungen. Er wäre nicht der österreichische Schriftsteller, würde es in dieser Geschichte nicht auch noch ganz heftig um Liebe gehen. Ein Wackelkontakt war die Beziehung zwischen der Bestattungsunternehmerin Nellie Wieselburger und Franz Escher viele Jahre lang. Am Ende braucht es nicht einmal einen Elektriker, um beide unter Strom zu setzen.
Wolf Haas: Wackelkontakt. Roman. Carl-Hanser-Verlag, München 2025. 240 S., Fr. 34.50.