Wotan tummelt sich bei Wagner wie bei Heavy Metal. Edda-Mythen beeinflussen die Populärkultur von Japan bis Mexiko.
Für den norwegischen Nobelpreisträger Jon Fosse leistet die isländisch geprägte Literatur des Mittelalters den wichtigsten Beitrag des Nordens zur Weltliteratur. Nun erschliessen drei neu erschienene Werke das nordische Mittelalter. Bücher über die Wikingerfrauen, den rätselhaft schillernden Gott Odin – Wotan heisst er in Wagners «Ring des Nibelungen» – sowie Grönlands und Amerikas Entdeckung 500 Jahre vor Kolumbus.
Pergament war in Island – anders als auf dem Kontinent – kein Luxusgut, was die Niederschrift von volkssprachlicher Prosa begünstigte. Bis ins 9. Jahrhundert hinein blieb Island menschenleer. Im 13. Jahrhundert schlugen die Isländer mit ihren identitätsstiftenden Sagas Brücken zu den Wurzeln ihrer Geschichte. Isländische Christen mit europäischem Horizont verschriftlichten in der Edda und andern Texten auch die germanische Mythologie.
Wilsons Gegeninszenierung
In seiner rundum gelungenen Monografie erzählt Klaus Böldl Odins Geschichte von der Spätantike bis zum Heavy Metal unserer Tage. Der Wanderer mit dem Schlapphut, der ein Auge opfert, um Weisheit zu erlangen, wurde ab dem späten 18. Jahrhundert zum «Nationalgott der Deutschen» stilisiert, vor dem schon die Römer gezittert hätten. Noch C. G. Jung glaubte, in Wotan eine «Grundeigenschaft der deutschen Seele» entdecken zu können.
Edda-Mythen beeinflussen die Populärkultur von Japan bis Mexiko. Von der Edda zehren Neuheiden und Rechtsextreme. Der Mob, der 2021 in Washington das Capitol stürmte, trug Amulette und Tattoos mit Edda-Symbolen: Thors Hammer, Odinsknoten, dem Weltenbaum. Der Terrorist Breivik, der den Tod von 77 Menschen auf dem Gewissen hat, liess aus dem Gefängnis verlauten, er bete nicht mehr zu Jesus, sondern zu Odin.
Um Odin «von der Inbesitznahme durch die Rechtsextremen zu befreien», schrieb Fosse das Stück «Edda», das 2017 von Robert Wilson in Oslo uraufgeführt wurde. In der Edda hängt Odin an seinem Speer am Weltenbaum und gelangt an der Schwelle des Todes in einen Zustand der Erleuchtung. In Wilsons Inszenierung hängt er im Elvis-Kostüm mit einer E-Gitarre im Geäst und singt einen Song. Der alte Mythos trifft auf neue Mythen der Populärkultur.
Die Wikinger waren die besten Seefahrer ihrer Zeit. Öystein Morten schildert Erik den Roten in einem so originellen wie spekulativen Buch als Loser, der als Totschläger zuerst in Norwegen und dann in Island geächtet wird, ehe er ums Jahr 980 Grönland entdeckt und dort eine Neusiedler-Gesellschaft gründet.
Eriks Joker war das Walross. Aus dem Elfenbein der Stosszähne schufen Europas Christen Reliquienbehälter. Als das Walross in Island ausgerottet war, baute Erik in Grönland eine neue Ära des Elfenbeinhandels auf und rettete so auch seine Ehre – dies ein Schlüsselbegriff der Saga-Ethik. Neuerdings haben archäologische Funde diese Geschichte untermauert.
Eriks Sohn Leif setzte als erster Europäer den Fuss auf amerikanischen Boden. Als vor zwei Jahren das neue Nationalmuseum in Oslo eröffnet wurde, verschwand Christian Krohgs Malerei «Leif Eriksson entdeckt Amerika» (1893) im Magazin, weil die Museumsleute das Bild für «kolonialistisch» hielten, was eine erregte Debatte auslöste.
Das Leben der Wikingerfrauen
Die Wikinger, die in Neufundland zu siedeln versuchten, wurden von Einheimischen vertrieben. Die Saga erzählt, wie sie vor einer Schar Indigener Reissaus nehmen. Eriks schwangere Tochter Freydis verliert den Anschluss. Da erblickt sie das Schwert eines Gefallenen, reisst sich die Kleider vom Leib und schlägt sich mit der Klinge auf die nackte Brust. Von Panik ergriffen, stürzen die Einheimischen zu den Kajaks. Die Wikinger aber setzen die Segel Richtung Heimat. Nie werden sie an diesen gefährlichen Ort, den sie Vinland nennen, zurückkehren.
In realistischen Sagas greifen Frauen so gut wie nie zu den Waffen. Die Wikingerin, die in der Serie «Norsemen» des norwegischen Fernsehens die Penisse ihrer Opfer zu einer Halskette verarbeitet, ist reine Phantasie. In ihrem quellenkritischen Buch über die Wikingerfrauen bezweifelt Johanna Fridriksdottir auch die Resultate einer 2017 mit riesigem Medienecho vorgestellten Studie, wonach ein im schwedischen Birka mit Waffen bestattetes weibliches Skelett die Existenz einer Kriegerin belegen soll, da die Knochen keinerlei Spuren von Gewaltanwendung aufweisen.
Fridriksdottir zeichnet ein facettenreiches Bild der Wikingerfrau von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus. In der klassischen Isländer-Saga erleben wir Ehen in ihrer ganzen Bandbreite, unerschütterlich loyale Gattinnen und Rächerinnen. In der «Njals Saga», einem Gipfelwerk des nordischen Mittelalters, schlägt Gunnar seine Frau vor dem gesamten Haushalt ins Gesicht. Als einige Kapitel später Gunnars Bogensehne während eines Angriffs seiner Feinde reisst, bittet er seine Frau um zwei Strähnen von ihrem Haar. Sie aber weigert sich: «Jetzt ist die Zeit, dich an die Ohrfeige zu erinnern.» Gunnar hat keine Chance, er stirbt den Heldentod.
Klaus Böldl: Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte. Verlag C. H. Beck, München 2024. 315 S., Fr. 39.90. – Øystein Morten: Erik der Rote. Der Entdecker Amerikas. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Kröner-Verlag, Stuttgart 2024. 373 S., Fr. 42.90. –Jóhanna Katrín Friðriksdóttir: Walküren. Frauen in der Welt der Wikinger. Aus dem Englischen von Franka Reinhart und Violetta Topalova. Verlag C. H. Beck, München 2024. 304 S., Fr. 39.90.