Real Madrid hat alles – und tritt gegen alles. Den spanischen Fussball bringt es mit seiner Aggressivität in den Ausnahmezustand. Woher kommt die Zerstörungswut?
Pünktlich zum Spiel kam auch das Video. Knapp fünf Minuten und von dramatischer Musik unterlegt, informierte der Vereinssender von Real Madrid seine Zuschauer darüber, wie Alejandro Hernández Hernández im Laufe seiner Karriere den Klub verpfiffen habe. Und dieser sinistere Geselle wird also am heutigen Sonntag den Clásico von Real beim FC Barcelona leiten.
Die Gepflogenheit, die der PR-Sender fast vor jedem Match praktiziert, vergiftet den Fussball im Königreich seit Jahren. Denn natürlich erfährt das geneigte Publikum in den Videos nur von den Fehlern der Schiedsrichter gegen Real. Dass derselbe Hernández den Königlichen etwa vorige Saison als VAR in einem berüchtigten Spiel noch zu einem 3:2 nach 0:2 gegen Almería verhalf – darüber kein Wort. Andere Vereine protestieren seit langem gegen diese Einschüchterungstaktik, die Schiedsrichter verweigern in stillem Protest mittlerweile die Annahme von Real-Geschenktüten.
Der Schiedsrichter weint an der Pressekonferenz
Durch die Geschehnisse um den Cup-Final gegen Barça (2:3) vor zwei Wochen wurde nun auch die internationale Öffentlichkeit aufmerksam: Einen Tag vor dem Spiel brach Referee Ricardo de Burgos Bengoetxea an einer Medienkonferenz in Tränen aus, als er berichtete, wie sein Junge in der Schule als «Sohn eines Diebs» beleidigt wird. Real, fern von schlechtem Gewissen, forderte daraufhin de Burgos’ Absetzung und flirtete mit einem Boykott.
Am Ende des Finals betätigte sich Verteidiger Antonio Rüdiger als verlängerter Arm der königlichen Wutbürgerschaft, bewarf de Burgos mit Utensilien, beleidigte ihn als «Missgeburt» und wollte ihm an den Kragen. All das nach einem Match, in dem ein verängstigter de Burgos – die Methode funktioniert – alle kritischen Szenen zugunsten Reals entschieden hatte. Dem Referee stand bei Abpfiff das Leiden Christi im Gesicht.
Die opulente Bühne des Clásico transportierte die Botschaft in alle Welt: Real Madrid, ein Verein, der mehr gewonnen hat als jeder andere, verliert nicht nur schlechter als jeder andere, er überschreitet dabei auch Grenzen von Sportlichkeit, gar Menschenwürde. Die Auswirkungen auf das königliche Prestige sind fatal. «Florentino, stopp!», flehte das vereinsnahe Sportblatt «Marca» den Klubpräsidenten Pérez an. Einen epochalen «Verfall» konstatiert der englische «Guardian». Verblüfft fragt der Planet in Richtung Madrid: «Was hat dich bloss so ruiniert?»
Denn der Pokalfinal war nicht das erste Mal, dass Real in dieser Saison gegen die Fussballsitten trat. Im Herbst stornierte der Verein seine Reise zur Ballon-d’Or-Gala, nachdem durchgesickert war, dass nicht der Madrid-Profi Vinícius Júnior mit dem Branchen-Oscar ausgezeichnet würde.
Spaniens vermeintlicher Vorzeigeklub konterkarierte damit den Stolz im Land darauf, dass mit Rodri (Manchester City) erstmals seit 1960 ein Spanier geehrt wurde. Patriotismus nur zu den eigenen Konditionen und keine Anerkennung für andere Gewinner: Zumal in den USA parallel gerade Wahlkampf war, sah der deutsche Nominierte Mats Hummels «trumpsche Züge».
Die Parallele passte nicht nur auf den konkreten Fall. Von Real geht tatsächlich disruptive Energie aus. Und auch die Methoden ähneln sich frappierend.
Florentino Pérez gilt als mächtigster Mann Spaniens, mit seinem Baukonzern ACS beherrscht er eine Schlüsselwirtschaft und damit auch viele Matchflüsse zu Politik und Justiz. Nachdem er in einer ersten Amtszeit das Madrid der «Galaktischen» erfunden hatte, zog er sich 2006 wegen sportlichen Misserfolgs vorübergehend zurück. Pérez ist Niederlagen nicht gewohnt. Als er 2009 unter allgemeiner Akklamation sein Comeback gab, war seine Mission klar: ein zunehmend brillantes Barça zu stoppen – egal wie.
In den folgenden Jahren berühmt wurden die Verschwörungstheorien, Schiedsrichterklagen und Grenzüberschreitungen des Real-Trainers José Mourinho. Einmal bohrte er zum Ende eines Clásico dem Barça-Assistenten Tito Vilanova sogar seinen Finger ins Auge. Der Klub bremste ihn nicht, im Gegenteil. Im Bernabéu durften Hardliner ein Transparent aushängen: «Dein Finger weist uns den Weg.» Pérez verteidigte Mourinho als «wichtigste Entscheidung meiner Präsidentenlaufbahn». Bis heute gilt dieser als sein Lieblingstrainer.
Pérez erfand Fake News, bevor es den Begriff gab
Im Schatten der Speerspitze «Mou» baute Pérez das Vereinsumfeld um. Zur Pflege des Schiedsrichterwesens wurde der gerade zurückgetretene Fifa-Referee Megía Dávila verpflichtet, er ist bis heute im Klub. Vereinsnahe Medien begannen mit Kampagnenjournalismus, der weit vor der Epoche der «Fake News» bis hin zu unbelegten Dopingvorwürfen gegen Barça ging.
Die aufziehende Zeitungskrise nutzte der Präsident, um über seinen Einfluss in Verlagen die einst plurale Berichterstattung über Real zu domestizieren. Gleichzeitig schnitt er die Klubstatuten so auf sich zu, dass auch intern jede Form von Korrektiv verlorenging.
Die ursprüngliche Mission hat Pérez in der letzten Dekade übererfüllt. Von den letzten zehn Champions Leagues gewann Real fünf, Barça keine einzige. Sein Sendungsbewusstsein und das des von ihm geschaffenen Apparats konnten sich neuen Zielen zuwenden. Mit der futuristischen Renovierung der Vereinsarena erreichte er auch bei den Steinen die Augenhöhe mit seinem verehrten Vorbild Santiago Bernabéu, dem Visionär und Stadionnamengeber aus den Zeiten des weissen Balletts.
Blieb eigentlich nur die Neuerfindung des Fussballs – der sich Pérez mit seinem Projekt der europäischen Superliga verschrieb. Bisher ist er damit krachend an einer paneuropäischen Allianz aus Verbänden, Regierungen und Fans gescheitert. Inwieweit ihn das verbittert, lässt sich nur erahnen, er spricht nicht darüber.
Fest steht, dass er bei seinem Kampf gegen Windmühlen längst im Kriegsmodus angekommen ist. Der Boykott der Weltfussballer-Gala ereignete sich kaum zufällig in dem Jahr, in dem erstmals die europäische Fussballunion Uefa als Co-Veranstalter auftrat.
Auch den Feldzug gegen die Referees interpretieren nur wenige Insider als Konsequenz aus der «Negreira»-Affäre des FC Barcelona um mysteriöse Zahlungen an ein Ex-Mitglied des Schiedsrichterkomitees im spanischen Verband. Tatsächlich begann etwa die Videopraxis im Vereins-TV schon vor der Enthüllung dieses Skandals im Februar 2023.
Ligachef Javier Tebas und Präsidenten anderer Vereine sehen in Reals Kampagnen den unverhüllten Versuch, «den spanischen Fussball zu zerstören» (Sevillas Klubchef del Nido), um auf dessen Ruinen die Superliga zu erbauen. «Für Florentino müssten wir alle auf Knien in die ACS-Zentrale kommen und um Entschuldigung bitten», so Tebas. «Entschuldigung, es stimmt, dass du gekommen bist, den Fussball zu retten.»
Kirre macht Reals Feldzug allerdings auch die eigene Belegschaft. Bei vier Punkten Rückstand auf Barça rettet nur ein Sieg im Clásico die letzte Titelchance ausserhalb der Klub-WM. Auch Rüdigers Entgleisung war nur ein besonders krasser, nicht aber der erste Ausraster der Saison. Die Offensivstars Vinícius, Jude Bellingham und Kylian Mbappé sahen in dieser Saison alle schon eine rote Karte – und das, obwohl der Karton gegen Real-Spieler bei den Schiedsrichtern gewiss nicht locker sitzt. Die Unparteiischen wissen ja: Sie landen dann gleich im nächsten Video.
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