Zumindest statistisch betrachtet ist Sommer in dieser Saison der beste Torhüter Europas. Längst wird der Schweizer in Italien als perfektes Schnäppchen angesehen.
Vielleicht hat sich Yann Sommer die Höhepunkte seiner langen Karriere für den Abschluss aufgespart. 35 Jahre alt ist der Torhüter kurz vor Weihnachten geworden, und zurzeit ist er so gut wie noch nie.
Am Montagabend feierte Sommer seinen ersten Titelgewinn mit Inter Mailand. Er blieb im italienischen Supercup-Finalturnier in Saudiarabien im Halbfinal (3:0 gegen Lazio Rom) und im Final (1:0 gegen Napoli) ohne Gegentor – und hat nun in 27 Pflichtspielen in dieser Saison 17-mal zu null gespielt.
Es ist eine herausragende Bilanz, die den Stellenwert Sommers bei seinem neuen Arbeitgeber unterstreicht. Die italienischen Medien schwärmen seit Monaten von den Darbietungen des Schweizers, schreiben von «einem phänomenalen Torhüter» («Gazzetta dello Sport») oder davon, dass Sommer «reaktionsschnell wie eine Rakete» sei («Corriere dello Sport»).
Weniger euphorisch, aber ebenfalls uneingeschränkt lobend fällt das Urteil seines Trainers Simone Inzaghi aus, der Sommer als souveränen Rückhalt preist und als Führungskraft, die auf und neben dem Platz wertvoll sei. Inzaghi sagt auch über den Goalie: «Dank seiner fussballerischen Klasse ist er ein wichtiger Faktor in unserem Aufbauspiel.»
Für Sommer überwies Inter nur rund 6 Millionen Franken in zwei Raten an Bayern München
Zumindest statistisch gesehen ist Yann Sommer in dieser Saison der beste Torhüter Europas. Er hat in zwanzig Serie-A-Einsätzen erst 10 Gegentore erhalten, auch das ist der Spitzenwert in den Top-5-Ligen. Noch fast beeindruckender als Rekorde und Leistungen sind Sommers Ruhe und Selbstverständlichkeit. Er trat vor dieser Saison die schwierige Nachfolge des Publikumslieblings André Onana an und hat es geschafft, dass heute kaum noch jemand aus der Inter-Fangemeinde dem populären Kameruner nachweint. Längst wird Sommer als perfektes Schnäppchen angesehen und womöglich sogar als Upgrade, weil er zuverlässig und stilsicher auftritt.
In England kursiert das Gerücht, dass Manchester United für Onana mit über 50 Millionen Franken Ablösesumme deutlich mehr bezahlt hatte, als Inter eigentlich gefordert hätte. Für Sommer überwies der Mailänder Klub nur rund 6 Millionen Franken in zwei Raten an Bayern München. Prächtig angelegtes Geld.
Das passt zur Philosophie unter dem smarten Vorstandsvorsitzenden Giuseppe Marotta, der in den letzten drei Saisons einen Transferüberschuss von weit über 150 Millionen Franken erwirtschaftet und die Mannschaft dennoch kontinuierlich verstärkt hat. In der letzten Saison stiess Inter Mailand – eher überraschend – in den Champions-League-Final vor und unterlag Manchester City unglücklich 0:1. Der gegnerische Trainer Pep Guardiola sprach danach von einer «wunderbaren Inter-Mannschaft», die stets genau wisse, was sie tun müsse.
Das ist das Werk des Trainers Inzaghi, der vielerorts immer noch unterschätzt wird. Dabei ist der Italiener nicht nur ein ausgesprochener Spezialist für Cup-Wettbewerbe, sondern auch ein formidabler Taktiker. Inzaghi hat Inter Schritt für Schritt weiterentwickelt, 51 Punkte aus 20 Ligaspielen bezeugen das. Wer dem Team in dieser Saison regelmässig zuschaut, sieht eine funktionierende Einheit mit kluger Raumaufteilung und eingespielten Abläufen, mit Spielfreude und Systemtreue. Der Mittelfeldspieler Nicolò Barella sagte kürzlich: «Wir haben Spass auf dem Rasen und finden immer eine Lösung.»
In den zweieinhalb Jahren unter Inzaghi gewann Inter fünf Titel (zweimal den Cup, dreimal den Supercup). Doch zur Wahrheit gehört, dass der Klub seit 2010 und dem Gewinn der Champions League nur einmal Meister wurde (2021). In der laufenden Saison liefert sich Inter einen spannenden Zweikampf mit dem Rivalen Juventus, in der Champions League gehören die Nerazzurri zumindest zu den Geheimfavoriten. Was auch am überragenden Stürmer und Captain Lautaro Martinez liegt, der in der Serie A 18-mal in 18 Partien getroffen hat – und am Montagabend in der Nachspielzeit das Siegtor gegen Napoli erzielte.
Der Supercup-Final stand symbolisch für viele Spiele von Yann Sommer. Er stand selten im Brennpunkt, blieb aber hellwach und entschärfte kurz nach der Pause einen gefährlichen Schuss von Chwitscha Kwarazchelia. Sommer war zwar nur der zweitbeste Torhüter an diesem Abend, weil Napolis Pierluigi Gollini mehrere grossartige Paraden zeigte. Aber Sommer war am Ende der Sieger.
Vielleicht ist Kobel besser – aber Sommer ist die Nummer eins
Vermutlich ist dieses Bild auch passend, wenn es um das Schweizer Nationalteam geht. Yann Sommer ist die Nummer eins, er wird dies auch an der EM im Sommer in Deutschland sein, wie der Nationaltrainer Murat Yakin vor ein paar Wochen bekanntgab. Nicht alle verstehen das, weil Gregor Kobel in Dortmund mit spektakulären Auftritten brilliert und deutlich mehr Gelegenheit erhält, sich auszuzeichnen. Sommer trat 2023 im kriselnden Nationalteam nicht immer überzeugend auf, aber es gibt eben auch keinen zwingenden Grund, ihn auf die Ersatzbank zu verbannen. Der ehrgeizige Kobel muss also warten.
Sommer hält sich aus allen Debatten heraus, er ist keiner für reisserische Schlagzeilen, sein Image ist makellos. Ab und zu taucht er mit einer privaten Geschichte im People-Journalismus auf, er ist ein beliebter Werbeträger und in Italien Botschafter von Schweiz Tourismus. Es gefällt ihm und seiner Familie in der neuen Heimat sehr, das Tessin und die Schweiz sind nahe, die Lebensqualität ist hoch. Und nachdem Sommer im letzten Frühling bei Bayern München teilweise schwer in der Kritik gestanden hat, ist er bei Inter unumstritten.
Aber das Glück ist brüchig, fast jeder kleine Fehler Sommers kostete in dieser Saison Punkte. Und in der Serie A stehen komplizierte Partien an. Anfang Februar beispielsweise geht es gegen Juventus, kurz darauf folgt das Champions-League-Achtelfinal-Hinspiel gegen Atlético Madrid.
Es sind Abende, an denen die Saison Inter Mailands definiert werden kann. Doch wer einen EM-Achtelfinal mit einem gehaltenen Elfmeter gegen den Weltstar Kylian Mbappé entschieden hat, wie es Sommer 2021 tat, dürfte bereit sein für solche Herausforderungen.