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Menschliches und Tierisches, Vegetabiles und Insektenartiges, Totes und Lebendiges: Alles fliesst in dieser bewegten Zeichenkunst ineinander über. In Solothurn zeigt der international gefeierte Schweizer Künstler nun seine Stärke. Sie liegt im einfachen Strich.
Wortspielereien mit Namen verbieten sich eigentlich. Im Fall von Yves Netzhammer aber kann man sie sich schwerlich verkneifen. Der Schweizer Künstler ist der Hammer. Seiner Kunst geht man unweigerlich ins Netz. Man verfängt sich in dem geknüpften Gewebe seiner Strichzeichnungen geradezu komplett. Die fein geführte Linie legt der Computerkünstler aus wie eine Fährte. Einem solchen Sehfaden widersteht kein Auge. Wie hypnotisiert folgt man seinem Verlauf und findet sich alsbald verstrickt in einer einzigen Halluzination, aus der es kein Entkommen mehr gibt.
Das kann man jetzt erfahren vor grossen bewegten Wandbildern im Kunstmuseum Solothurn, ausgerechnet in der Stadt, wo jeweils auch die Filmtage stattfinden. Da schwingt sich ein Strich auf zu einer sanften Kurve. Wer erkennt da nicht schon bald eine Hüfte? Und schon geht alles in ein Bein über und endet in einem Fuss, über den sich ein Frauenschuh legt. Flugs steigen davon die Linien auf zu einem Zylinder, aus dem Zacken ausfransen und in haarige Fortsätze übergehen, unter welchen sich etwas Nabelartiges reckt.
Das wandfüllende Bild ist keine Animation. Vielmehr fährt die Kamera über ein riesiges Ganzes wie über eine Landschaft der Zeichen. Allerdings bekommt man nur immer Ausschnitte mit. Menschliches und Tierisches, Vegetabiles und Insektenartiges, Totes und Lebendiges: Alles fliesst ineinander und geht in neue Formen und Objekte über. Und in allem bleibt ein subjektiver Anteil stecken: Denn was wir da eigentlich sehen, ausmachen können und zu erkennen glauben, ist doch immer auch viel Hineininterpretieren.
Handgemenge
Ergriffen von dem Liniengeflecht, ertappen wir uns alsbald dabei, in schieren Projektionen gefangen zu sein. Einem Kind mag das anders widerfahren, es mag anderes erkennen als ein Erwachsener. Ein Mann wiederum anderes als eine Frau. Ein Kunstfreak nochmals anderes als ein Gelegenheits-Museumsbesucher. Je nach Gestimmtheit mögen wir auch Dunkles hineinphantasieren, schmerzhafte Schnitte in einem körperhaften Volumen erkennen, oder Angenehmes, sanfte Liebkosungen von Händen.
Überhaupt: die Hand. Sie ist ein Markenzeichen von Yves Netzhammers Kunst. Und taucht überall auf in seinen bewegten Wandprojektionen und Videoinstallationen. Finger, die sich krümmen, Hände, die sich umarmen, Finger, die bluten oder gewaltsam auseinandergebogen werden. Das Handgemenge in Endlosschlaufe ist auch ein Spiel der Metamorphosen. Die ihr Eigenleben führenden Hände können sich dabei in noch ganz andere Körperteile verwandeln. Längst aber haben wir die Hand ergriffen, die uns der Künstler reicht. Sie hält uns in festem Griff. Ihr Besitzer ist ein Verführer der visuellen Suggestion, ein Manipulator unseres Sehnervs.
Was er dabei erst in unserem Hirn anstellt: Alles Gute und Böse dieser Welt erblicken wir, wenn wir in seinen archetypischen Zirkus der Gestalten starren: schemenhaft genug, um darin unsere eigene Vorstellungswelt wiederzufinden. Kein Wunder, ist dieser Bilderkosmos nie frei von Konflikten. Eines muss man Netzhammer aber zugestehen: seine allem zugrunde liegende Empathie mit dem Kreatürlichen. Und so erklärt sich auch der ungewöhnlich-poetische Titel der Solothurner Schau: «Die Welt ist schön und so verschieden, eigentlich müssten wir uns alle lieben».
Yves Netzhammer, 1970 in Affoltern am Albis geboren, ist heute bekannt bis nach Japan. Die Liste seiner Ausstellungen im In- und Ausland ist lang. Auch zahlreiche Kunstpreise konnte Netzhammer schon einstecken. Mit seiner unverwechselbaren Ikonografie hat sich der Künstler in den letzten drei Jahrzehnten international einen Namen gemacht. Wobei seiner computergenerierten Videokunst, seinen Diaprojektionen und Rauminstallationen stets der einfache Strich zugrunde liegt.
In Schaffhausen absolvierte Netzhammer eine Lehre als Hochbauzeichner. Heute zeichnet er ganze Museumsräume voll. In Solothurn steht ihm das gesamte Parterre des Museums zur Verfügung. In der gross angelegten Einzelausstellung wird das Kunstmuseum für Netzhammer gleichsam zum riesigen weissen Zeichenblock.
Im Beichtstuhl
Solothurn ist traditionell katholisch. Über der kleinen Stadt thront die St.-Ursen-Kathedrale. Das hat der Künstler, der gerne ortsspezifisch arbeitet, zum Anlass genommen, Kojen wie Beichtstühle in einem Raum einzurichten, damit man sich seinem Purgatorium an der gegenüberliegenden Wand mit ganzer Inbrunst ausliefern kann. Hier entfaltet sich erneut das Schauspiel der Metamorphosen, nun nicht in schlichten Linien aufgezeichnet, sondern in die Tiefe gemalt in komplexen Flächen in Weiss, Schwarz und Blutrot.
Das ABC der Bilder lässt sich leicht buchstabieren. Schlangen mit Zähnen und Zungen wachsen aus Schläuchen und umgarnen menschliche Köpfe mit Schutzmasken. Aus einer Schnittwunde fliegt ein Flugzeug empor, während sich ein schwarzer Käfer durch eine Wolke frisst. Eine Heuschrecke kriecht über einen weiblichen Rücken, Beine münden in einem Schafskopf. Aus Händen tropft Blut über ein offenes Buch.
Das Gesamtbild ist nicht zu erfassen. Nur Fragmente sind es, die sich hier langsam bewegen und zu einem Drama zusammenfügen, dessen Sinn und Zweck wir nie ergründen werden. Der digitale Soundtrack, mit dem Netzhammer sein bewegtes Bild unterlegt, verstärkt das Gefühl der Fremdheit und des Unbehagens wie in einem bösen Traum. Das entspricht im Grund ganz dem, wie sich uns auch die täglich erlebte Wirklichkeit zeigt. Die Welt ist unbeständig, in konstantem Wandel der Erfahrungen, Erlebnisse und Emotionen begriffen. Und in ihrer Gesamtheit stets unfassbar.