Die Silhouette der deutschen Hauptstadt wird von zwei neuen Super-Hochhäusern dominiert – nur der Fernsehturm ist noch höher.
Hochhausbau in Berlin ist ein Dilemma: Seit hundert Jahren bemüht sich die deutsche Hauptstadt um eine wiedererkennbare Skyline und ein Konzept für ihr Wachstum in die Vertikale – ohne Erfolg. Nun setzen zwei neue Hochhäuser neue Massstäbe. Während der Amazon-Turm das Arbeiten im Hochhaus mit Freiluft-Terrassen in schwindelnder Höhe verbindet, versucht der Estrel Tower sein Bestes, einem Grosshotel am Stadtrand ein schlankes Ausrufezeichen zu verpassen.
Die beiden grossen Seen und Wälder im Osten und Westen Berlins beschränken das Wachstum der Stadt allenfalls. Die flache Ebene und der sandige Baugrund, auf dem die grösste Stadt der deutschsprachigen Welt errichtet wurde, haben allerdings das Höhenwachstum in Berlin traditionell auf 23 Meter begrenzt. Aufgrund des Zweiten Weltkriegs und der Teilung hat Berlin kein Banken- oder Geschäftsviertel, in dem es einen Sog in die Höhe geben würde wie in jeder anderen Metropole der Welt.
Die zwei neuen Wolkenkratzer im Osten der Stadt setzen ganz neue Akzente: Der Edge East Side Tower genannte Büroturm, in dem die Firma Amazon zahlreiche Büros hat, ragt 142 Meter hoch über das Dächermeer von Friedrichshain. Der dänische Architekt Bjarke Ingels hat dem Turm an der Warschauer Brücke, unweit der East Side Gallery, eine treppenartig ausgeschnittene Vorhangfassade gegeben, die an Pixel erinnert.
Berlins neue Spitze krönt das «Mediaspree»-Neubauviertel, ein Werk der aus Zürich stammenden ehemaligen Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher. Sie ist auch Autorin des «Hochhausleitbilds für Berlin», das vorsieht, dass alle neuen Hochhäuser in der Stadt öffentlich zugängliche Sockel und Spitzen haben sollen.
Grüne Terrassen
Je ein Café im Erdgeschoss und in der obersten Etage sowie eine Etage mit kostenlosen Büros für gemeinnützige Organisationen, die im Amazon-Turm vorgesehen sind, beruhigten das Gewissen der Stadtplaner schnell. Mit seinen 36 Stockwerken überragt der Turm die beiden neuen Hochhäuser im Westen der Stadt, das Zoofenster und das Upper West, deutlich. Nicht weniger als 28 der Etagen sind an Amazon vermietet.
Auch wenn sich der Bauherr und der Architekt des Turms alle Mühe geben, ihr Haus als «grün, smart und gesund» anzupreisen, ist es doch unverkennbar ein Kind der Spätmoderne. Rem Koolhaas, der geistige Vater der zeitgenössischen dänischen Neomoderne, hat sich um elegante Details nie geschert und betrachtet Hochhausfassaden als generische Versatzstücke. Coen van Oostrom, der Gründer der Firma Edge, die etwa 400 Millionen Euro in den Turm investiert hat, kommt ebenfalls aus den Niederlanden.
Allein aus der Funktion heraus versuchen Koolhaas und sein Eleve Ingels gestalterisch Funken zu schlagen: Die «Nachbarschaft soll in einer vertikalen Struktur fortgesetzt werden», wie der projektleitende Architekt Kai-Uwe Bergmann phantasiert. Das hat jedoch noch in keinem Hochhaus der Welt funktioniert. Hochhäuser sind Sackgassen, meist streng zugangskontrolliert und keine urbanen Strassen in der Vertikale.
Die Mitarbeiter des Online-Versandhaus-Riesen Amazon können sich mit dem ersten seillosen Aufzugssystem der Welt in Doppelstock-Aufzügen in ihre Büroetagen und wieder hinab befördern lassen. Der Blick in den oberen Etagen ist spektakulär: Berlins höchstes Bürogebäude wird nur vom Fernsehturm überragt.
Um den neuen Turm herum verlaufen drei spiralförmig eingeschnittene zweigeschossige Terrassen. Jeder zweite Flügel der Glasfassaden lässt sich öffnen. So können Nutzer Frischluft geniessen. Die Fassaden mit Aluminiumrahmen und Dreifachverglasung haben bis zu zwei Meter hohe Glasbalustraden, damit niemand vom Dach geweht wird oder springt. Auf jedem Geschoss gibt es solcherweise Zugang zu einem Aussenraum mit winterblühenden Stauden und kleinen Bäumen. Das ist eine Revolution im Hochhausbau.
Hohe Flachdach-Kiste
Derlei Ambitionen hat der Estrel Tower mit seinem rautenförmigen Grundriss nicht. Er wird den Amazon-Turm aber als höchstes Haus der Stadt vom Thron stossen, auch wenn er mitten in einem unansehnlichen Gewerbegebiet im tiefsten Neukölln liegt: Der Estrel Tower soll mit 46 Stockwerken und 176 Metern Höhe die Stadt krönen.
Der Hotelier Ekkehard Streletzki und sein Sohn verbauen 260 Millionen Euro für den Turm auf dem ehemaligen Gelände eines Kabelwerks. Das deutsch-amerikanische Architekturbüro Barkow Leibinger plant 525 Hotelzimmer, Büros, ein Restaurant und eine Sky-Bar darin. Wie der Amazon-Turm liegt auch der Estrel Tower direkt an einem S-Bahnhof und gilt deswegen als modernes «transit-oriented development».
Beide neuen Türme sind urbane Blickpunkte im Häusermeer Berlins. Die Lehre der Postmoderne, dass Türme mit prägnanter Silhouette einen Beitrag zur Skyline einer Stadt leisten und in Basis, Schaft und Kapitel gegliedert sein sollen, ist allerdings vergessen. Die beiden neuen Hochhäuser sind wieder einfache Flachdach-Kisten wie in den sechziger Jahren.
Eigentlich war der Alexanderplatz als Krone der Stadt auserkoren, und nach langen Jahren des Zauderns werden dort nun auch tatsächlich die ersten Hochhäuser gebaut. Aber die beherzte Mittelmässigkeit der neuen Berliner Hochhauspolitik führt dazu, dass kein städtebauliches Drama wie in Schanghai-Pudong, in Singapur oder in Chicagos Loop entsteht. Es gibt einfach keine Not in der wirtschaftsschwachen Stadt, in die Höhe zu bauen.
Die wenigen Hochhäuser in der «Stadt ohne Form» geniessen dafür umso mehr Aufmerksamkeit. Türme, hier und da im Stadtgebiet verteilt, führen zum Eindruck eines ungeordneten Stalagmiten-Felds. Das Berliner Hochhaus-Regelwerk schwadroniert derweil von «Mehrwert für die Stadtgesellschaft, Multifunktionalität, Kompensation und Partizipation».