Der Deutsche überlebt zwei Jahrzehnte in einer Hochrisikosportart, dann wird ihm beim Skifahren ein Stein zum Verhängnis. Wie geht es Michael Schumacher? Auf die immergleiche Frage gibt es keine Antwort.
Plötzlich ist da Stille. Ein Schweigen, das im Fall von Michael Schumacher besonders eindrücklich ist. Seine Karriere war stets begleitet von viel Lärm, dem Dröhnen der Motoren, dem «Schumi»-Jubel der Massen, dem Klicken unzähliger Kameras.
Doch seit zehn Jahren gibt es all das nicht mehr, seit dem Skiunfall des Rekordweltmeisters der Formel 1 am 29. Dezember 2013 in den französischen Alpen. Kein Wort, kein Bild, keine Begegnungen. Und dennoch ist das Interesse am Schicksal des am Lac Léman lebenden Rennfahrers ungebrochen.
Es mag makaber erscheinen, den Jahrestag eines Unfalls zu begehen. Doch es gehört zur ungeheuren Magie des ersten deutschen Champions in der Königsklasse. Die Schockwellen mögen niedriger geworden sein, aber sie sind nicht verebbt. Sie zeigen auch, dass Michael Schumacher weit mehr ist als bloss ein erfolgreicher Rennfahrer.
Kein zu hohes Tempo, kein Fehlverhalten – einfach nur ungeheures Pech
Er überlebte zwei Jahrzehnte in einer Hochrisikosportart, konnte viele schwere Unfälle im Rennwagen wegstecken, doch dann wird ein mit nur wenig Schnee bedeckter Stein auf der Skipiste in Méribel zum Verhängnis. Dieser löst einen Sturz auf einen weiteren Stein aus, Schumacher erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma. Die NZZ schrieb damals: «Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, aber es ist kein Rennen.»
Es folgen Notoperationen, wochenlanges Bangen, ein längeres künstliches Koma, die Verlegung nach Hause und der komplette Rückzug aus der Öffentlichkeit. Die Staatsanwaltschaft bescheinigte, dass weder zu hohes Tempo noch anderes Fehlverhalten im Spiel war. Einfach nur ungeheures Pech. Das gern dahingesagte Wort «folgenschwer» hatte ein prominentes Gesicht bekommen. Diese üble Laune des Schicksals macht die Menschen damals wie heute so fassungslos. Und die Frage bleibt immer die gleiche: Wie geht es Michael Schumacher?
Die Antwort darauf wissen nur jene, die mit ihm im waadtländischen Dorf Gland zusammenleben oder dort ein- und ausgehen dürfen. Das Anwesen der Schumachers ist von viel Grün umgeben, zugleich aber auch von einer unsichtbaren Mauer des Vertrauens und des Schweigens. Das war, natürlich unter weit anderen Umständen, schon immer so während der Karriere des bald 55-Jährigen: das Privatleben als absolute Tabuzone.
Zu Beginn der Laufbahn war Michael Schumacher schüchtern, später vorsichtig, schliesslich konsequent. Selbst wenn jemand nur unabsichtlich allzu Privates streifte, war mitten im Gespräch Schluss, verhärteten sich die Gesichtszüge. «Er hat nie das Visier ganz geöffnet, nie den ganzen Michael Schumacher gezeigt», sagte seine Managerin Sabine Kehm, die ihn seit dem Jahr 2000 begleitet. Es gab immer diese zwei Schumachers: den skrupellosen Rennfahrer – und den fürsorglichen Familienvater.
Die einzige Erklärung in einem ganzen Jahrzehnt zu seinem Zustand stammt von seiner Ehefrau Corinna aus einer Netflix-Biografie. Sie sagt: «Es ist ganz klar, dass mir Michael jeden Tag fehlt, und nicht nur mir. Jeder vermisst Michael.» Doch: «Aber Michael ist ja da. Anders, aber er ist da. Und das gibt uns allen Kraft. Wir machen alles, damit es ihm gut- und bessergeht und er den Zusammenhalt der Familie spürt. Michael hat uns immer beschützt – und jetzt beschützen wir Michael.»
Mehr soll nicht gesagt werden, und wie schon zu aktiven Zeiten trägt das Mysterium seinen Teil zum Mythos bei. Niemand hat ein Recht auf ein Bild, aber der Verunglückte sehr wohl einen Anspruch auf Würde.
Die Regenbogenpresse lässt nicht locker
Die Jagd nach Bildern, Zitaten und Zustandsbeschreibungen begann schon in der Klinik von Grenoble, wohin ihn der Helikopter geflogen hatte. Ein Journalist wollte sich als Priester verkleidet auf die Intensivstation schmuggeln, später soll ein Mitarbeiter der Schweizerischen Rettungsflugwacht versucht haben, die Krankenakte zu verkaufen – und beging schliesslich Suizid.
In der Regenbogenpresse tauchten immer wieder geschmacklose Berichte auf. Die «Bunte» musste für die Behauptung «Es ist mehr als ein Weihnachtswunder – Michael Schumacher kann wieder gehen» wegen der Verletzung von Persönlichkeitsrechten eine Busse von 50 000 Euro bezahlen. In diesem Frühjahr tauchte als vermeintliche Weltsensation ein erstes Interview in «Die Aktuelle» auf. Es war mithilfe von künstlicher Intelligenz erfunden worden, auch der Zusatz «Es klingt täuschend echt» konnte die Chefredaktorin nicht mehr retten. Bereits 2016 hatte das Blatt unzulässig getitelt: «Er ist nicht mehr unter uns».
Der Jurist Felix Damm weiss wohl, wie es um Michael Schumacher steht, er ist seit 15 Jahren der Presseanwalt der Schumachers, und er hat nicht bloss eine rechtliche, sondern auch eine plausible Erklärung dafür, warum es offiziell nichts Neues geben soll. Denn mit jedem Bulletin wäre ja nicht Schluss gewesen, es hätte immer weitere Nachfragen gegeben, die sich unter Umständen sogar hätten einklagen lassen. «Freiwillige Selbstöffnung» nennt sich das im Gesetzbuch.
Die Fans fürchten sich vor der Wahrheit
Nicht nur die Faszination bei den Fans ist ungebrochen, Schumacher-Geschichten sind immer auch grosse Mediengeschichten. Es gibt viele, die darauf beharren, dass sie ein Recht auf Information über den Gesundheitszustand haben. Die grosse Mehrheit der Fans, so lassen zumindest deren Beiträge in den sozialen Netzwerken vermuten, fürchtet sich aber auch vor dem, was sie da zu sehen bekämen. Was würde solch ein Bild einem geben – aber vor allem: Was könnte es nehmen?
Viele konservieren lieber die Erinnerung an einen strahlenden Helden, sie finden sich damit ab, dass es nichts Neues aus der Familie gibt, mit Ausnahme der sportlichen Meldungen zum Sohn Mick, der damals in Méribel mit auf der Piste stand. Dass ausgerechnet Michael Schumacher, dem Helden der Geschwindigkeit, etwas passiert, was Zigtausende andere schon erleben mussten, macht ihn auf eine gewisse Weise sogar greifbar, beinahe nahbar. Tatsächlich hat sich für viele die Beziehung durch die Tragik noch intensiviert. Es macht fassungslos, wie sich auf einen Schlag das ganze Leben verändern kann.
Michael Schumacher gewann 91 Formel-1-Rennen, er wurde 7 Mal Weltmeister, doch sein Glanz reicht über den Sport und weit über Deutschland hinaus. Hier können es vielleicht noch Boris Becker oder Franz Beckenbauer, vielleicht auch Dirk Nowitzki, mit ihm aufnehmen. Gerade in Asien geniesst Schumacher hohes Ansehen, die Popularität ist ungebrochen. Als er 2004 an der Formel-1-Premiere in China nur als Zwölfter ins Ziel kam, warf ihm ein lokaler Reporter empört vor: «Ein Schumacher verliert doch nicht!»
Michael Schumacher zementierte deutsche Tugenden: unermüdlich arbeitend, perfektionistisch, erfolgreich. Aber er musste auch für Rücksichtslosigkeiten auf der Piste als Bild für den hässlichen Deutschen herhalten. «Wenn es ein Sportler schafft, dass sein Name fast schon gleichbedeutend mit dem Sport ist, den er ausübt, dann geht nicht mehr», sagte seine Managerin Sabine Kehm gerade erst der Deutschen Presse-Agentur. «Jemand hört Michaels Namen, und ihm fällt sofort die Formel 1 ein. Das haben nur die ganz Grossen geschafft. Letztlich personifiziert Michael die Formel 1.»
In diesen Tagen widmet sogar die alternative «TAZ», die selbst in Zeiten des «Schumi»-Booms mit zehn Millionen und mehr Zuschauern bei den Formel-1-Übertragungen den Motorsport totschwieg, Schumacher einige Zeilen. Die Autorin kommt in ihrer Betrachtung über die ARD-Doku-Serie «Being Michael Schumacher», die am 28. Dezember ausgestrahlt wird, zu dem Urteil: «Michael Schumacher ist tatsächlich mehr als eine Person – eine grosse, für viele Menschen sehr bedeutsame Erzählung.» Dazu passen die rekordverdächtigen 1,5 Millionen Zugriffe auf die Mediathek des Senders in den ersten drei Tagen.
Lewis Hamilton fährt weiterhin gegen Michael Schumacher
Für seinen Landsmann Sebastian Vettel, immerhin auch vierfacher Weltmeister, sind es dessen immer ablesbare Ergebnisse und die Besonderheit des Charakters, die Schumacher bei aller Schnelllebigkeit des Motorsports unvergessen machen. Ihm selber habe Schumacher Halt gegeben: «Denn da war jemand, der gezeigt hat, was möglich ist.»
Auch im gegenwärtigen Fahrerlager der Formel 1 bleibt Schumacher präsent, es messen sich immer noch alle an ihm, selbst Lewis Hamilton, sein erster Nachfolger als Dauersieger. Der Brite wurde ebenfalls 7 Mal Weltmeister, er fährt wohl auch deshalb mit 38 noch, weil er Schumacher nach Titeln übertreffen möchte. Immer noch werden Talente schnell mit dem Attribut «der neue Schumacher» versehen, am ehesten trifft das auf den Weltmeister Max Verstappen zu, der vom Talent über die Rücksichtslosigkeit gegen sich und andere bis hin zum schnellen Wandel der Persönlichkeit dem Deutschen ähnelt.
So wie Ayrton Senna nie vergessen wurde, denken sie in der Formel 1 auch weiterhin an Michael Schumacher, der das Berufsbild des Rennfahrers neu definiert hatte. Die Generation, die jetzt fährt, war schon alt genug, ihn bewusst zum Vorbild zu nehmen. Als Vorkämpfer für die Sicherheit nach Sennas Tod hat ihm die Vollgasbranche einiges zu verdanken.
Vor sieben Jahren ist die Stiftung Keep Fighting ins Leben gerufen worden. Die Familie Schumacher, bestärkt von der grossen Anteilnahme, will damit die caritative Arbeit fortsetzen, die Michael Schumacher immer wichtig war. Dazu gehörte die Gründung eines Instituts für Hirnforschung in Frankreich. Der Stiftung dient ein Zitat des Rennfahrers als Botschaft: «Ich habe immer daran geglaubt, niemals aufzugeben und immer weiterzukämpfen, auch wenn es nur die geringste Chance gibt.»