Die fremdenfeindliche Stimmung gegenüber Migranten aus Zentralasien hat in Russland drastisch zugenommen. Die Behörden lenken mit Razzien und Ausschaffungen vom eigenen Versagen ab. Sie spielen dabei mit dem Feuer.
«Bist du Tadschike? Wenn ja, dann bestelle ich das Taxi wieder ab.» Solche und ähnliche Nachrichten aus dem Chat-Bereich von Yandex Go, der beliebtesten Taxi-App in Russland, haben nach russischen Medienberichten in den vergangenen Tagen zahlreiche Taxifahrer erhalten. Hausbewirtschaftungsgesellschaften, deren Hausmeister, Strassenkehrer und Handwerker mehrheitlich Arbeitsmigranten aus Zentralasien sind, riefen ihre Mitarbeiter dazu auf, möglichst nicht wegzugehen, Personenansammlungen zu vermeiden, auf keinen Fall tadschikische, kirgisische oder usbekische Cafés zu besuchen und trotz dem Fastenmonat Ramadan der Moschee fernzubleiben: Polizisten würden dort jeden einsammeln.
Jeder Tadschike wird zum Verdächtigen
Das Los der Arbeitsmigranten in Russland, und ganz besonders derjenigen aus Zentralasien, war noch nie ein leichtes. Ihre Arbeitskraft ist gefragt, aber die Haltung ihnen gegenüber, sowohl seitens der Mehrheitsgesellschaft als auch der Behörden und besonders der Ordnungshüter, war stets von Herablassung, oft von Erniedrigung und Fremdenfeindlichkeit geprägt.
Das selbstverständliche «Du» in der Anrede an den unbekannten Taxichauffeur mit dem tadschikisch klingenden Namen mag nebensächlich sein, aber es illustriert die verächtliche Haltung, die den Zuwanderern entgegengebracht wird. Seit dem Terroranschlag auf die Crocus City Hall, für den aus Tadschikistan stammende Täter verantwortlich gemacht werden, scheint vielerorts die noch vorhandene Zurückhaltung offenem Hass gewichen zu sein.
Plötzlich ist jeder aus Zentralasien stammende Migrant ein potenzieller Gesetzesbrecher oder gar Terrorist. Nationalistisch gesinnte Russen, die durch den Krieg gegen die Ukraine – der paradoxerweise unter dem Motto «Kampf gegen die Nazis» geführt wird – Auftrieb erhalten haben, fühlen sich nun im Recht, gewaltsam gegen nichtslawisch aussehende Personen vorzugehen. Die Zahl der Übergriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf der Strasse, die Überfälle auf Orte, wo sich vornehmlich Migranten treffen, und Anschläge auf deren Geschäfte haben drastisch zugenommen. Menschenrechtsaktivisten und Anwälte, die sich für Arbeitsmigranten einsetzen, verzeichneten in den vergangenen Tagen mehrere tausend Anrufe Hilfesuchender pro Tag.
Ausweisung oder Verschickung an die Front
Die Polizei veranstaltet derzeit vor allem in Moskau, dem Moskauer Umland und in St. Petersburg Razzien, oftmals zusammen mit Vertretern der Migrationsbehörden und des Wehramtes. Allein in einem der Verteilzentren der Online-Handelsplattform Wildberries in der Stadt Elektrostal bei Moskau sollen fünftausend Zentralasiaten kontrolliert und viele von ihnen mitgenommen worden sein.
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat den Behörden ein zusätzliches Instrument in die Hand gegeben: Nicht wenige der Migranten sind in den vergangenen Jahren russische Staatsbürger geworden, was ihren Aufenthalt im Land erleichtert. Aber sie haben sich nicht bei den Militärbehörden registriert. Jetzt wollen diese die Neubürger und auch Ausländer unter Strafandrohung zum Dienst an der Front zwingen.
Migranten, die sich dagegen wehren oder ungeeignet erscheinen, werden in Ausschaffungshaft gesetzt oder gleich in ihre Herkunftsländer ausgeflogen. Gerichte verfügen wie am Fliessband Ausweisungen. Einzelne Provinzen erlassen kurzfristig Verbote für Migranten, Taxi zu fahren oder als Kuriere tätig zu sein. Die Behörden versuchen mit diesem aus Generalverdacht und pauschalen Vorwürfen genährten Aktivismus zu verbergen, dass sie bei der Terrorabwehr versagt haben. Die Willkür soll auch die Korruption und die Nachlässigkeit übertünchen, mit denen die Migranten ständig konfrontiert sind und die wie von selbst dazu führen, dass bei manchen von ihnen tatsächlich nicht immer alle Papiere einwandfrei sind.
Behörden verschliessen die Augen vor Missständen
Viele der Probleme, die übereifrige Politiker und Funktionäre anprangern, und die damit verbundenen Forderungen sind Dauerbrenner der Migrationspolitik. Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass sehr viele der Migranten von ihren Arbeitgebern ausgenutzt werden, schlechte Arbeitsbedingungen haben und zum Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen wohnen. Oft wissen die Behörden sehr wohl darüber Bescheid, aber profitieren selbst von diesen Zuständen.
Gleichzeitig überzeichnen die Politiker nach Auffassung von Fachleuten manche der Probleme. Migranten begehen entgegen jüngsten Behauptungen des Generalstaatsanwalts vergleichsweise wenige Straftaten. Auch die Sorge um Ghettoisierung erscheint wenig begründet. Die Zentralasiaten, die ihre Familien nachholen, leben meist verstreut über die vielen Stadtteile am Stadtrand. Oft sind sie aber in den Schulen mit Diskriminierung konfrontiert oder mit der Schwierigkeit, ihre Kinder überhaupt dort anmelden zu können. Auch auf dem Wohnungsmarkt werden sie benachteiligt.
Eine Visumspflicht für Zentralasiaten, wie von nationalistischen Politikern gefordert, würde an ihrem Los in Russland wenig ändern. Zudem beträfe sie die neben den Tadschiken grösste Gruppe der Zentralasiaten, die Kirgisen, ohnehin nicht, weil Kirgistan zur Eurasischen Wirtschaftsunion gehört. Auch die Idee des vor kurzem noch als einigermassen «liberal» gehandelten Präsidentschaftskandidaten und stellvertretenden Duma-Vorsitzenden Wladislaw Dawankow, Migranten auf Schritt und Tritt digital zu überwachen und bei jedem kleinsten Vergehen sofort auszuschaffen, ist vor allem billiger Populismus.
Russland kann nicht auf Migranten verzichten
Politiker, Funktionäre und auch viele Bürger tun jetzt so, als könnte Russland auf die Arbeitskräfte und künftigen Neubürger aus dem Ausland verzichten. Angesichts des durch den Krieg, die Pandemie und die negativen demografischen Entwicklungen verschärften dramatischen Arbeitskräftemangels wirkt das volkswirtschaftlich und gesellschaftlich fahrlässig.
Die Pandemie, der Krieg und der Wertverlust des Rubels haben schon in den vergangenen Jahren zu einem deutlichen Rückgang der Zuwanderung aus den ehemaligen Sowjetrepubliken geführt. Auch für Zentralasiaten gibt es weniger gefährliche und finanziell attraktivere Arbeitsorte, zum Teil auch im eigenen Land. In Moskau dagegen waren in diesem Winter vielerorts Klagen über schlecht vom Schnee geräumte Strassen, Trottoirs und Innenhöfe zu hören, weil es an Arbeitsmigranten mangelt und die verbliebenen in lukrativere Branchen wie das Taxigewerbe oder Kurierdienste wechselten. Ohne Zentralasiaten würden Logistik, Bau, Detailhandel und Dienstleistungen in Russland zusammenbrechen. Für die oft schlecht bezahlten Stellen liessen sich kaum Einheimische als Ersatz finden.
Die russische Führung kann nicht beliebig mit der pogromartigen Stimmung und der Fremdenfeindlichkeit gegenüber ausländischen Arbeitskräften spielen. Mehr denn je betont Präsident Wladimir Putin seit dem Grossangriff auf die Ukraine den Charakter Russlands als Vielvölkerstaat. Das geschieht mit propagandistischem Kalkül, aber ist politisch bedeutsam. Der russische Nationalismus richtet sich nämlich nicht nur gegen ursprünglich ausländische Nichtslawen, sondern auch gegen die Kaukasier, Tataren, Jakuten, Kalmücken und Baschkiren im eigenen Land.
Unter Tränen rief die in Tadschikistan geborene Sängerin Manizha, die 2021 Russland am Eurovision Song Contest vertreten hatte, dazu auf, menschenverachtende Täter nicht nach Nationalitäten zu ordnen. Eine vom Kreml fast schon kultivierte Urangst besteht im Zerfall Russlands entlang ethnischer Trennlinien. Eine russisch-nationalistisch aufgeheizte Stimmung kann deshalb nicht im Interesse Putins und seiner Entourage sein.