Noch vor kurzem stellte der Regierungsrat beim Fluglärm eine Trendwende in Aussicht. Diese ist nicht eingetreten.
Normalerweise gibt es kaum ein Ranking, bei dem der Flughafen Zürich nicht ganz oben steht. Er gilt als Musterschüler, der internationale Preise im Akkord einsammelt. Nun jedoch erhält er vom Regierungsrat die Note «nicht erfüllt», und dies wegen des Lärmschutzes. Denn die Zahl der Personen, die von Fluglärm betroffen sind, ist stark angestiegen und übertrifft die im Zürcher Fluglärm-Index festgelegten Grenzwerte deutlich.
Der Regierungsrat fordert, dass der Flughafen handelt. Eine solche Ansage hat es überhaupt noch nie gegeben seit 2008, seit es den Fluglärmindex gibt.
37 Prozent mehr Leute
Und es ist umso erstaunlicher, da es sonst anders klang, wenn der Regierungsrat den jährlichen Flughafenbericht jeweils im Dezember vorlegte. Stets lautete der Tenor, dass sich alle Beteiligten um weniger Nachtflüge bemühten – und dass dies auch gelinge. Jedoch liess sich dieser Sachverhalt schwer beurteilen, weil die Zahlen wegen des Corona-Einbruchs ohnehin tief unter den Grenzwerten lagen.
2023 wurden nun rund 53 000 Personen im Kanton Zürich von Fluglärm gestört – 47 000 dürften es gemäss Richtwert maximal sein. Besonders ins Gewicht fällt die Zunahme bei den nachts gestörten Personen. Sie liegt neu bei 23 000, das sind 37 Prozent mehr als im Vorjahr.
Sanktionen ziehen diese Grenzüberschreitungen nicht nach sich, denn der Fluglärmindex ist eine Zürcher Erfindung, und am Flughafen gibt der Bund die Regeln vor. Aber die Regierung ist in der Pflicht, aktiv zu werden.
Auffällig ist, dass die Zahl der allgemeinen Flugbewegungen noch längst nicht wieder auf dem Stand von 2019 ist – deutlich zugenommen hat aber ausgerechnet die Zahl der Nachtflüge. Der ordentliche Flugbetrieb am Flughafen dauert bis 23 Uhr, der Flughafen darf jedoch eine weitere halbe Stunde für den Abbau von Verspätungen nutzen, die sich während des Tages kumulieren.
Verspätungen sind also die Ursache dafür, dass es mehr Nachtflüge gibt. Für diese wiederum gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist aus Sicht der Regierung, dass die Branche nach dem Corona-Einbruch ein rasantes Wachstum bewältigen musste, «weil die Menschen wieder reisen wie verrückt», so die Volkswirtschaftsdirektorin Carmen Walker Späh (FDP) am Donnerstag vor den Medien.
Viele Luftfahrtunternehmen reduzierten während der Pandemie ihren Personalbestand und mussten erst wieder Leute einstellen. Hinzu kommt, dass aufgrund des Ukraine-Kriegs ein Grossteil des europäischen Luftraums Sperrzone für die zivile Luftfahrt ist. Im verbliebenen Luftraum wird es enger.
Der Regierungsrat will nun, dass der Flughafen die Lärmgebühren anhebt, um einen Anreiz für die Fluggesellschaften zu setzen. Diese sollen Flüge nach 23 Uhr vermeiden sowie moderne und damit deutlich leisere Maschinen einsetzen.
Nur: Die Lärmgebühren am Flughafen Zürich wurden bereits 2019 erhöht. Noch vor zwei Jahren sprach Walker Späh von einer «Trendwende» bei den Nachtflügen – wegen der höheren Gebühren, aber auch wegen zahlreicher Einzelmassnahmen von Flughafen und Swiss. Hat sie sich getäuscht?
Walker Späh sagt, die Corona-Pandemie sei eine enorme Disruption für die Branche gewesen. Die konkreten Abläufe zum Verspätungsabbau müssten erst wieder eingeübt werden. Dann würden sie wirken, ist sie überzeugt.
Klar ist auch, dass Lärmgebühren zweckgebunden sind und gemäss Gesetz keinen Ertrag abwerfen. Sie können also nicht beliebig hoch angesetzt werden. Immerhin sollen die Gebühren rasch erhöht werden. Walker Späh sagt: «Ich rechne damit, dass sie 2025 in Kraft treten.»
Flughafenkritiker sehen sich bestätigt
Die Kritiker des Flughafens sehen sich durch die aktuellen Zahlen bestätigt. Lärmgebühren und Sofortmassnahmen genügten nicht, schreibt der Verein «Fair in Air» in einer Mitteilung. «Die Nachtruhe ab 23 Uhr ist vom Flughafen zwingend einzuhalten.» Der Verein hat die so genannte Nachtruhe-Initiative lanciert, über die voraussichtlich 2025 abgestimmt wird.
Die Grünen interpretieren die Zunahme der Nachtflüge dahingehend, dass mit der gewonnenen Abstimmung zu den Pistenverlängerung beim Flughafen «die Dämme gebrochen» seinen. Was zeitlich nicht ganz aufgeht. Denn die Abstimmung war diesen März. Verhandelt wird im Flughafenbericht aber die Lärmsituation im Jahr 2023.
Die Zürcher FDP hingegen kritisiert zwar die vielen Nachtflüge ebenfalls, weist aber darauf hin, dass der Zürcher Fluglärm-Index das Bevölkerungswachstum nicht berücksichtige: Immer mehr Leute wohnten in der Flughafenregion – nur deshalb überschreite der Fluglärmindex den Grenzwert. Insgesamt habe kein anderer europäischer Flughafen ein derart enges Korsett wie Zürich.
Die Kritik der Regierung kommt für den Flughafen nicht überraschend. Sprecherin Bettina Kunz sagt: «Wir sind selbst nicht zufrieden.» Die Verspätungssituation sei im laufenden Jahr besser gewesen als 2023, jedoch nicht in den Sommermonaten, der Hauptreisezeit in Europa.
Wirklich Entlastung bringen würden erst grundlegende Anpassungen – an den Flugrouten zum Beispiel. Diese stecken aber in langwierigen Verfahren fest. Auch bei den Pistenverlängerungen dauert es wegen aufwendiger Planungsprozesse und Rechtsmittelverfahren noch fast ein Jahrzehnt, bis sie realisiert sind.