Je grösser die Ratlosigkeit über die Zumutungen der Zeit, desto grösser ist das Verlangen nach Fachleuten, die einordnen und erklären – auch wenn sie sich regelmässig widersprechen.
Am Mittwochabend belegte Donald Trump die halbe Welt mit exorbitanten Zöllen, am Donnerstag teilte der Bundesrat seine Ratlosigkeit mit der Öffentlichkeit, und am Montag tauchten die Börsen.
Am Wochenende hat sich das perfekte Zeitfenster für USA-Experten geöffnet. Einer von ihnen ist der ehemalige Schweizer Botschafter in Berlin, Thomas Borer. Vor seiner Zeit in Berlin war er Mitarbeiter der Schweizer Botschaft in Washington, später leitete er die Task-Force «Schweiz – Zweiter Weltkrieg», die den Raubgold-Streit beilegte.
«Ein echtes Armutszeugnis» – «brillant»
Dass der Bundesrat, wie Finanzministerin Karin Keller-Sutter am Donnerstag zugab, offensichtlich nicht mit einem solchen Zollhammer gerechnet hatte, gibt dem USA-Kenner Borer zu denken. Gegenüber SRF sagte er: «Ich bin schockiert, dass es dem Bundesrat und der Schweizer Botschaft in Washington seit Trumps Wahl am 6. November nicht gelungen ist, belastbare Beziehungen zum engsten Kreis um Trump aufzubauen.»
Das sei ein grosser Fehler gewesen. Der Bundesrat und seine Unterhändler hätten sich wahrscheinlich auf ein Best-Case-Szenario eingestellt, das dann nicht eingetreten sei. Ergo: «Sie sind nicht in der Lage, die Interessen der Schweiz zu vertreten. Es ist ein echtes Armutszeugnis.»
Borers Rat: sehr schnell Kontakt zum früheren Botschafter der USA in der Schweiz, Edward McMullen, aufnehmen. Er habe den Vorteil, dass er direkt Zugang zu Trump habe und die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und den USA bestens kenne.
Bevor Bern reagieren konnte, fragte SRF bei Trumps ehemaligem Gesandten in Bern nach. Dessen Antwort: Er helfe gerne, aber er sei, um ehrlich zu sein, «etwas perplex». Er verstehe nicht, dass die Schweiz mit Zöllen von 31 Prozent belegt worden sei, während die EU nur 20 Prozent entrichten müsse. Sein Trost für die Schweiz: Was Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter tue, sei brillant: «Sie nimmt keine feindliche Position ein.»
Was denn nun? Armutszeugnis oder brillant? Vielleicht beides? Erst die Kontaktnahme zu Trump und seiner Entourage verschlafen, dann aber brillant reagiert? Vor allem aber: Was soll man nun tun?
Eine klare Antwort auf diese Frage hat der Swissmem-Chef Martin Hirzel. In einem Interview mit der NZZ sagte der Präsident des Industrieverbandes, die Schweiz brauche nun schnellstmöglichen Zugang zum engsten Umfeld von Präsident Trump. «Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter muss in Mar-a-Lago vorstellig werden», so Hirzel. «Wir müssen unseren Standpunkt erklären und Angebote machen.»
Bürgerkrieg? «Ein reales Risiko»
Genau anders herum sieht es die HSG-Professorin Miriam Meckel, die Amerika gut kennt. Sie warnte am Samstag vor einem Canossagang nach Mar-a-Lago und der «Selbstentmachtung der Demokratie»: «Sind wir schon die Lämmer, die sich freiwillig zur Schlachtbank führen lassen?», fragt sie im Gespräch mit CH Media.
Wenn in den USA Millionen ihre Jobs verlören, die Inflation hochgehe und Trump das Vertrauen in Institutionen, Medien und Wissenschaft weiter schwäche, dann sei ein Bürgerkrieg in den USA kein Tabuwort mehr, sondern ein reales Risiko. Doch bei aller Sorge über das, was in den USA geschehe: «Es wird auch dort wieder eine andere Zeit der Rückkehr zur Zivilisation kommen. Wir müssen uns jetzt fragen, auf welcher Seite wir dann gefunden werden wollen.»
Gedanken über die Seite, auf der die Schweiz dann stehen will, hat sich offenbar auch der frühere Nationalbankchef und heutige Blackrock-Vizepräsident Philipp Hildebrand gemacht. Laut «Sonntags-Blick» stellt er den Kaufentscheid für den F-35 infrage. An einem Treffen mit dem Bundesrat habe er gesagt, die Schweiz müsse nun im Rahmen der europäischen Allianz einen eigenen Sicherheitsbeitrag leisten. Die Äusserung fiel während einer Klausur, die der Bundesrat vor dem «Liberation Day» abhielt.
Die Gefahr von merkantilistischen Zöllen sahen demnach weder die Mitglieder des Bundesrats noch der ehemalige Nationalbankchef kommen. Jedenfalls waren sie an der Klausur kein Thema. Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter sagte am Tag danach, die Schweiz sei zwar nicht überrascht; dass der Präsident und sein Handelsminister zu einer solch «rudimentären Formel» greifen sollten, habe man aber nicht erwartet.
Und welche Lehren zieht der Bundesrat nun für die Zukunft? Noch am Sonntag hat er die Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), Helene Budliger Artieda, nach Washington entsandt. Sie soll dort nochmals erklären, weshalb die Schweiz unfair behandelt wird, und einen Besuch von Wirtschaftsminister Guy Parmelin und Karin Keller-Sutter vorbereiten.
Ob das «brillant» ist, ein weiteres «Armutszeugnis» oder der nächste Schritt Richtung «Schlachtbank», werden Experten beantworten müssen. Spätestens nächstes Wochenende.