Was 1968 als «Uni-Ferkelei» in die österreichische Geschichte einging, wird nun im neuen Wiener Aktionismus Museum ausgestellt. Doch statt einer gelungenen Inszenierung und Einordnung zeigt das Museum vor allem sein eigenes Unvermögen.
Irgendwann musste es ja raus. Dass das Nachkriegsösterreich Probleme hatte, sein politisches Vorleben und vor allem die Nazi-Zeit zu verdauen, rächte sich am 7. Juni 1968 aufs Eindrücklichste: In einem Hörsaal der Wiener Universität defäzierten und urinierten die nackten Wiener Aktionisten auf offener Bühne. Zu politischen Vorträgen und den Klängen der österreichischen Bundeshymne wurde gekotzt und masturbiert. Medial ging die Veranstaltung «Kunst und Revolution» als «Uni-Ferkelei» in die Geschichte ein.
Der bewusst regressive Akt hat den Wiener Aktionismus nicht daran gehindert, sich bis heute zu einem Phänomen auszuwachsen. Seit sechzig Jahren wird er abwechselnd bejubelt und verdammt.
Häuptling der «Watschenanalyse»
Die lautesten Jubler sind die Sammler der Aktionismus-Kunst. Es gibt aber auch Zeitgenossen, die sich als Opfer der damaligen patriarchalen Herrenriege sehen. Die sich, wenn schon nicht Verdammnis und Vergessen, so doch Aufarbeitung wünschen. Vor allem in einem Fall: Otto Muehl.
Der Aktionist und «Kunst und Revolution»-Teilnehmer Muehl gründete zu Beginn der siebziger Jahre in Wien eine erste Kommune. Später baute er am burgenländischen Friedrichshof ein System sozialer Esoterik auf, das er «Aktionsanalytische Organisation», kurz AAO, nannte. Ein bisschen Freud, ein bisschen Wilhelm Reich und Otto Muehl als Kommunenhäuptling, der die «Watschenanalyse» propagierte und grausame «Kinderpalaver» abhielt.
1991 wurde Muehl von einem österreichischen Gericht wegen sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung von Minderjährigen verurteilt. 1998 kam er frei. Er starb 2013.
Die Überschreitungskunst
Zur Abteilung Jubel gehört etwas Erstaunliches: Es gibt jetzt ein neues Wiener Museum, das ganz dem Aktionismus gewidmet ist. Auf drei Etagen und in anschaulicher Chronologie wird dargestellt, wie sich die Maler Otto Muehl, Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler und Günter Brus allmählich vom Tafelbild lösen und zu einer Überschreitungskunst finden, die mit den Materialgrenzen auch zunehmend Tabus auflöst.
Die «hitzig rasende Arbeitsweise», wie Günter Brus das genannt hat, weitet sich auf den Körper aus. Man schüttet, matscht und schmiert. Man giesst kübelweise Unbewusstes in Aktionen, bei denen nicht selten gefesselt wird, die aber als Befreiung gelten.
Freud steht Pate, wenn diese Kunst-Kammerspiele alles auf die Bühne bringen, was dem Österreicher beklemmend auf der Brust liegt. Die katholische Doppelgesichtigkeit aus Schuld und Vergebung. Der selbst erfundene Mythos, dass das Land nur ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei. Bei den Wiener Aktionisten treten Söhne von im Krieg umgekommenen Vätern an. Der Kreislauf aus Geburt und Tod bleibt im gemeinsamen Werk ein tragischer und zugleich dionysischer Zirkel.
Hermann Nitsch wird das später zu seinem körperflüssigkeitsgetränkten Markenzeichen machen und sich selbst zum Heurigen-Ekstatiker veredeln. Rudolf Schwarzkogler war der apollinische unter den Aktionisten. Mit schmalem Œuvre und eher kontrollierten Passionen. Er kam 29-jährig bei einem Sturz aus dem Fenster seiner Wohnung ums Leben. Günter Brus, der Letzte des Quartetts, starb im Februar dieses Jahres. Nur Wochen vor der Eröffnung des Wiener Aktionismus Museums.
Fotografierte Aktionen an weissen Wänden
Was hätte man aus dem neuen Haus, das mitten in Wien liegt, machen können? Vielleicht sogar machen müssen? Einen Ort, an dem über Kunst, Lust, Wahn und Übergriff in Gedanken, Worten und ausgestellten Werken diskutiert wird.
Jetzt hängen die Bilder und die abfotografierten Aktionen schlaff an den weissen Wänden des neuen Museums. Schriftliche Kommentare gibt es kaum, und spricht man mit Julia Moebus-Puck, der Direktorin des Hauses, und ihrer Kuratorin Eva Badura-Triska, gibt es einen Aktionismus ganz besonderer Art: Stirnrunzeln.
Die Frage nach den Verfehlungen Otto Muehls hat man in den letzten Wochen offenbar zu oft gehört. Kunst ist Kunst, und zum Kinderschänder sei Muehl erst nach der Blütezeit des Wiener Aktionismus geworden. Gustav Klimt und Egon Schiele werden als tabubrecherische Brüder im Geiste genannt, mit schon damals flagrant fliessenden Grenzen hin zum Missbrauch von Modellen. Auch die hätten sich öffentlich durchgesetzt.
Wenn die Kuratorin auch noch meint, dass der tatsächlich höchst patriarchale Wiener Aktionismus eine Art feministisches Projekt gewesen sei, muss man in Erinnerung rufen, was Anna Brus, das wichtigste Performance-Modell der sechziger Jahre, gesagt hat. Aus der Aktion «Strangulation» des Jahres 1968 ist Anna Brus, die Frau von Günter Brus, wegen deren Radikalität ausgestiegen, um nie wieder zur Verfügung zu stehen. Später hat sie gesagt: «Der Extremaktionismus war mir fremd, und auch die späteren, sexistischen Muehl-Aktionen waren mir zutiefst zuwider.»
Alles das könnte Stoff sein für Diskussionen über die Kunst als Ort von Schönheit und Schande. Der Budenzauber des Unbewussten, den die vier Herren zwischen 1964 und 1974 veranstaltet haben, schliesst ja nicht aus, dass auch den Menschen der Gegenwart manches in der Seele flackert. Mit Cancel-Culture kommt man da nicht weiter, mit kunstgeschichtlicher Verabsolutierung aber auch nicht.
Natürlich ist das neue Museum in einem Dilemma. Es wurde von spezialisierten Sammlern wie dem Galeristen Philipp Konzett initiiert. Es soll ein Schaufenster sein und verhindern, dass Relevantes in den Depots nicht nur des Kunstbetriebs, sondern auch der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet. Das zweite Dilemma: Der Wiener Aktionismus eignet sich nur bedingt als Museumskunst. Um sein eigenes Verschwinden zu verhindern, brauchte es sekundäre Medien wie die Fotografie und den Film. Was man in Wien sieht, sind ikonische Filmstills mit verletzten, besudelten, brachialen und fragilen Körpern. Das Vergnügen am Überschreiten von Pathosgrenzen ist eine konjunkturelle Sache, und so schaut man mitunter nicht ohne Distanz auf diese archivierte Vitalität von gestern.
Den Skandal witternd
Historisch interessant ist der Wiener Aktionismus allerdings. Das Österreichische an ihm bleibt sein pochendes Herz. Der Aktionismus ist einzigartig, weil er Strömungen, die es in der Kunst auch anderswo gab, in etwas Monströses vergrösserte.
Gleichzeitig aber war er auch ein Katalysator der pittoresken Selbstverkleinerungen des Landes. Während die 68er Revolutionen Europa in Aufruhr versetzten, blieb es in Wien ziemlich still. Ausnahme war die «Uni-Ferkelei». Ein moralisch aufgescheuchter, aber feinsensorisch den Skandal witternder Boulevardjournalismus stand Seite an Seite mit Polizei und Justiz.
Der staatsweiten Empörung gab ein Paragraf des Strafgesetzes juristischen Halt, nach dem «gröbliches und öffentliches Ärgernis verursachende Verletzung der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit» zu ahnden sei: Ein paar Tage nach «Kunst und Revolution» wurden Günter Brus, Otto Muehl und der Schriftsteller und Philosoph Oswald Wiener verhaftet. Neben der Verletzung der Schamhaftigkeit wurde ihnen auch noch die Herabwürdigung österreichischer Symbole vorgeworfen. Im Juli 1968 wurden sie zu teilweise mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt.
Ein «Wiener Spaziergang»
Die Polizei ist Feind und zugleich aufmerksamkeitsökonomischer Helfer der österreichischen Avantgarde. Seit den frühen sechziger Jahren wurde zuverlässig eingeschritten, wenn Künstler der Wiener Gruppe, des Wiener Aktionismus oder des verwandten Expanded Cinema von Valie Export mit ihren Werken im öffentlichen Raum auftauchten.
1965 unternahm Günter Brus seinen berühmten «Wiener Spaziergang»: Im weissen Anzug und weiss getüncht geht Brus durch historisch belastete Zonen, etwa über den Wiener Heldenplatz. Sein Körper ist durch einen schwarzen Strich in der Mitte geteilt. Auf den Fotografien der Aktion sieht man den Zerrissenen schnell durch einen kongenialen Zweiten ergänzt. Ein Wiener Polizist im schweren Regenmantel hat das aufrührerische Kunstschaffen als solches erkannt und geleitet Brus zur nächsten Wachstube. Der Aktionist muss 80 Schilling wegen «Erregung öffentlichen Ärgernisses» bezahlen. Man kann den Aktionisten zugutehalten, dass sie die österreichischen Erregungsschwellen auf nachhaltige Weise ausgereizt haben. Die Skandale von gestern sind längst keine mehr. Und manches aus der eigenen Produktion kann auch weg. Günter Brus nennt in seinem Buch «Das gute alte Wien» den Kollegen Otto Muehl «Otto Sperrmüll».
Wiener Aktionismus Museum. Weihburggasse 26, 1010 Wien. Ein Katalog soll im Mai erscheinen.