Deutschland hat eine neue Regierung. Und ähnliche Probleme wie Anfang der 1960er Jahre. Das Buch, das Ludwig Erhard über seine damalige Kanzlerzeit geschrieben hat, liest sich wie ein Déjà-vu.
Was kann man der neuen Bundesregierung in Berlin raten? Wie sollte sie in und mit Deutschland agieren? Und wie nicht? Man könnte bei Ludwig Erhard nachschlagen. Er liess ein Manuskript über seine Kanzlerzeit der Jahre 1963 bis 1966 verfassen. Autor war Johnny Klein, einst Erhards Pressereferent, Redenschreiber und Ghostwriter. Später begann Klein selbst eine erfolgreiche politische Karriere: als Bundestagsabgeordneter, als aussenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, als Minister und schliesslich als Vizepräsident des Bundestags von 1990 bis zu seinem Tod im Jahr 1996.
Aber warum schon wieder Ludwig Erhard als Ratgeber aus der Vergangenheit? Weil er der vielzitierte «Vater des Wirtschaftswunders» war? Es ist ein Wunder, von dem die Deutschen heute nur träumen können. Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, die er als Kanzler machte, ist gerade heute von Interesse. Und es ist verdienstvoll, dass diese jetzt als Buch erschienen sind. Im Vorwort der Ausgabe führt Roland Koch, der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung, Erhards anhaltende Modernität auf die Überzeugung des Kanzlers zurück, dass es die wichtigste Aufgabe der Politik sei, den Blick in die Zukunft zu richten.
Die Fragen der Zukunft in den 1960er Jahren waren denen der heutigen Zeit nicht unähnlich. Erhard sah sich als Gestalter wie als Manager der Politik vielen Herausforderungen gegenüber, die auch die gegenwärtige Zeit prägen: mangelnde Haushaltsdisziplin, Probleme mit dem Zusammenhalt der Koalition, die Frage der Lastenteilung im europäisch-amerikanischen Verhältnis, kleinere und grössere Zeitenwenden, die Lage im Nahen Osten und die Freundschaft mit Israel als Grundpfeiler der deutschen Aussenpolitik.
50 Milliarden Dollar
Vor diesem Hintergrund lesen sich Erhards Memoiren seiner Kanzlerschaft wie ein Rechenschaftsbericht. Ihr Herausgeber, der Historiker Ulrich Schlie, weist darauf hin, dass Erhard nie eine ausgeprägte Neigung verspürt habe, sich zu Fragen jenseits seines Fachgebiets, der Wirtschaftspolitik, zu äussern. Schon gar nicht zur internationalen Politik. Seine Kanzlerschaft wollte Erhard eigentlich unter den Primat der Innenpolitik stellen. Allerdings zeigte sich rasch, dass eine in Bewegung geratene Weltpolitik auch von einem deutschen Regierungschef ihren Tribut fordert.
Schlies Einordnung lässt in Erhards Kanzlerzeit eine Reihe von Déjà-vus aufleuchten. Da ist die bis heute ungelöste Frage der Lastenteilung zwischen Europäern und Amerikanern innerhalb der nordatlantischen Allianz. Sie gehörte schon damals zu den drängendsten aussenpolitischen Problemen. Und es ging bereits damals um die hohen Verteidigungslasten der Vereinigten Staaten in Europa in Höhe von 50 Milliarden Dollar. Das Thema blieb ein Dauerbrenner in den deutsch-amerikanischen Beziehungen während Erhards Regierungszeit – ohne greifbare Ergebnisse.
Schon in den 1960er Jahren begannen im Kongress in Washington die Stimmen lauter zu werden, die forderten, die Truppenpräsenz der USA in Europa zu reduzieren. Allerdings waren es damals die Demokraten, die politischen Druck auf ihre europäischen Verbündeten ausübten. Ihr Fraktionsführer, Mike Mansfield, forderte im August 1966 erstmals eine drastische Truppenreduzierung seines Landes in Europa.
«Sensationelle Offerte»
Ein weiteres Déjà-vu birgt die noch heute drängende Frage der nuklearen Teilhabe Deutschlands innerhalb der Abschreckungspolitik der Nato. Im ersten Jahr von Erhards Kanzlerschaft kam in Washington die Idee auf, eine multilaterale Atomstreitmacht ins Leben zu rufen, die Multilateral Force (MLF). Für sie sollten mehrere U-Boote und Kriegsschiffe der Nato mit Atomraketen ausgestattet werden. Diese wären dann unter dem gemeinsamen Kommando der Mitgliedstaaten gestanden und hätten auch nichtnuklearen Mächten eine Teilhabe garantiert.
Bei seinem Antrittsbesuch bei Präsident Lyndon B. Johnson bekräftigte Erhard seine Bereitschaft, mit der Bundesrepublik an der MLF teilzunehmen. Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle dagegen lehnte eine Beteiligung seines Landes ab. Schon aus Prestigegründen. Schlie weist darauf hin, dass sich de Gaulle 1964 bei einem Besuch in Deutschland an den damaligen Staatssekretär des Auswärtigen Amts und späteren Bundespräsidenten Karl Carstens gewandt und ihn mit dem Vorschlag eines deutsch-französischen Zusammengehens im nuklearen Bereich konfrontiert habe.
«Warum legen Sie so grossen Wert auf dieses Projekt?», fragte de Gaulle: «Sie glauben doch wohl nicht, dass die Amerikaner Ihnen einen wirklichen Einfluss bei der MLF einräumen werden. Warum beteiligen Sie sich nicht bei uns? Bei uns können Sie einen grösseren Anteil bekommen.» Erhard gegenüber allerdings habe de Gaulle seine «sensationelle Offerte» mit keiner Silbe erwähnt.
Die amerikanisch-russische Détente, die sich heute immer deutlicher abzeichnet, die kalte Schulter, die Ludwig Erhard Paris gegenüber wiederholt gezeigt hatte, und das Bedürfnis nach Grösse, das die französische Aussen- und Sicherheitspolitik bestimmt –, sie setzten den äusseren Rahmen der Handlung für Erhards Kanzlerschaft: Das Scheitern der MLF und Frankreichs Rückzug aus der militärischen Integration der Nato seien spätere Ausprägungen dieser Linie. Einer Linie, die bis in die heutigen sicherheitspolitischen Diskussionen in Europa führt.
Ludwig Erhard: Erfahrungen für die Zukunft. Meine Kanzlerzeit. Herausgegeben von Ulrich Schlie im Auftrag der Ludwig-Erhard-Stiftung. Econ-Verlag, Berlin 2024. 335 S., Fr. 31.90.