Als Überträger der schwachen Kraft spielt das W-Boson eine zentrale Rolle in der Teilchenphysik. Eine neue Messung seiner Masse liefert ein Resultat, das nicht allen Physikern gefallen dürfte.
Teilchenphysiker kennen die Situation zur Genüge: Ein Experiment liefert ein Ergebnis, das dem Standardmodell der Teilchenphysik zu widersprechen scheint. Doch dann kommt eine andere Arbeitsgruppe und findet das Gegenteil. Auf diese Weise sind schon viele Anläufe gescheitert, eine bessere Beschreibung für die fundamentalen Bausteine der Materie und die Kräfte zwischen ihnen zu finden. Denn das Standardmodell ist alles andere als perfekt. So kann es zum Beispiel nicht erklären, was sich hinter der dunklen Materie verbirgt, die Galaxien zusammenhält.
Die eingangs beschriebene Situation hat sich nun ein weiteres Mal wiederholt. Am Cern in Genf hat eine internationale Arbeitsgruppe die Masse des sogenannten W-Bosons gemessen und ein Ergebnis gefunden, das bestens zum Standardmodell passt. Die Messung widerspricht einem Resultat, das vor zwei Jahren für erregte Gemüter gesorgt hatte. Damals hatte ein Experiment am amerikanischen Beschleunigerlabor Fermilab festgestellt, dass das W-Boson schwerer ist, als es die Theorie erlaubt. Nicht wenige Physiker hatten damals gehofft, das sei der sehnlichst erwartete Hinweis auf «neue Physik».
Das W-Boson lässt Atomkerne zerfallen
Das W-Boson ist eines der 17 Teilchen, die zum Standardmodell gehören. Anders als die Quarks oder das Elektron ist es kein Materiebaustein. In Atomkernen tritt es vielmehr virtuell in Erscheinung. Es überträgt die schwache Kernkraft, die manche Atomkerne zerfallen lässt.
Dafür, dass das W-Boson ein elementares, nicht weiter zerlegbares Teilchen ist, ist es extrem schwer. Seine Masse ist fast so gross wie die von 86 Wasserstoffatomen. Sie lässt sich im Rahmen des Standardmodells mit einer Genauigkeit besser als 0,01 Prozent berechnen. Das macht das W-Boson zu einem idealen Kandidaten, um das Standardmodell zu testen.
Allerdings ist es extrem aufwendig, die Masse des W-Bosons zu messen. Am Cern entsteht das Teilchen, wenn zwei Protonen mit hoher Energie aufeinanderprallen. Danach zerfällt es fast augenblicklich in leichtere Teilchen. Für die Messung der W-Bosonen-Masse eignen sich vor allem Zerfälle in ein Myon und ein Neutrino. Allerdings gibt es dabei eine Schwierigkeit. Das Myon kann mit einem Teilchendetektor nachgewiesen werden. Das Neutrino entkommt aber unerkannt und trägt einen unbekannten Impuls und eine unbekannte Energie davon. Es fehlt also gewissermassen die Hälfte der Information, um die Masse des W-Bosons zu rekonstruieren.
Aus diesem Grund waren frühere Messungen am Cern und am Fermilab nicht sehr genau. Sie bestätigten zwar das Standardmodell, aber nicht mit der Präzision, die theoretisch möglich wäre. Das änderte sich vor zwei Jahren. Mit dem Collider Detector am Fermilab (kurz CDF) konnte eine internationale Arbeitsgruppe die Masse des W-Bosons erstmals mit einer Genauigkeit von 0,01 Prozent messen. Der Vergleich mit der Theorie lieferte eine handfeste Überraschung: Das W-Boson war zu schwer.
Wow! Aber kann das richtig sein?
Christoph Paus vom Massachusetts Institute of Technology erinnert sich noch deutlich an den Moment, als er die Daten das erste Mal zu sehen bekam. «Mein erster Gedanke war: Wow, wenn das stimmt . . .» Dann seien aber die Zweifel gekommen. Reichte das wirklich, um das Standardmodell aus den Angeln zu heben? Oder hatten sich unerkannte Fehler in die Messung eingeschlichen?
Paus befand sich in der glücklichen Lage, das überprüfen zu können. Er gehört nicht nur zur CDF-Arbeitsgruppe am Fermilab, sondern auch zu einer Arbeitsgruppe am Cern. Am dortigen Large Hadron Collider gibt es zwei grosse Detektoren (CMS und Atlas), die die Produkte der Teilchenkollisionen nachweisen.
Schon 2016 hatte Paus Mitarbeiter auf die Aufgabe angesetzt, die mit dem CMS-Detektor gesammelten Daten zu analysieren. Die Forscher entwickelten dafür einen ausgeklügelten Algorithmus, mit dem sich der Effekt der verlorengegangenen Neutrinos korrigieren lässt. Diesen Algorithmus zu kalibrieren und zu validieren, habe viel Zeit gekostet, sagt Paus.
Acht Jahre später liegt nun das Ergebnis der CMS-Arbeitsgruppe vor. Die Messung am Cern ist fast ebenso genau wie die am Fermilab. Aber von einer Abweichung vom Standardmodell ist nichts zu sehen. Vielmehr passt die Messung exakt zur theoretischen Vorhersage. Statistisch gesehen seien die beiden Messungen nicht miteinander zu vereinbaren, so Paus. Eine der beiden müsse einen grösseren Fehler haben als ausgewiesen.
Hans Peter Beck von der Universität Bern vermutet, dass der Fehler bei der CDF-Arbeitsgruppe am Fermilab zu suchen ist. Beck gehört zur zweiten Arbeitsgruppe am Cern, die die Masse des W-Bosons schon 2017 mit dem Atlas-Detektor gemessen hat. Das im letzten Jahr aktualisierte Ergebnis deckt sich mit dem der CMS-Arbeitsgruppe – und das, obwohl beide Gruppen nicht nur verschiedene Teilchendetektoren verwendet haben, sondern auch unterschiedliche Messmethoden. Die Messung am Fermilab werde vermutlich als widerlegt in die Geschichte eingehen, sagt Beck.
So deutlich äussert sich Paus nicht. Aber auch er hält es für wahrscheinlicher, dass der Fehler nicht beim Cern, sondern beim Fermilab zu suchen ist. Grosse Hoffnungen, den Fehler zu finden, macht er sich allerdings nicht. Die Messungen seien so kompliziert, dass die Fehlersuche vermutlich Jahre dauern würde. Dafür fehle beim Fermilab das Geld.
Die Hoffnung auf neue Physik stirbt zuletzt
Die beiden Messungen am Cern dürften bei vielen Teilchenphysikern für Ernüchterung sorgen. Theoretiker haben in den letzten Jahren Dutzende Vorschläge unterbreitet, wie das Standardmodell der Teilchenphysik erweitert werden könnte. Die einen suchen das Heil in neuen Teilchen, die zum Beispiel erklären könnten, woher die dunkle Materie im Universum kommt. Andere postulieren, dass es neben den vier bekannten Naturkräften eine fünfte Kraft geben könnte.
Bis jetzt fehlt diesen Modellen aber die experimentelle Grundlage. Trotz allen Unzulänglichkeiten beschreibt das Standardmodell die Welt der Elementarteilchen mit einer enervierenden Zuverlässigkeit. Manche Teilchenphysiker treibt das zur Verzweiflung. Deshalb kann man sicher sein: Sobald sich die nächste teilchenphysikalische Anomalie abzeichnet, sind sie wieder Feuer und Flamme.