Der amerikanische Präsident Joe Biden hat Japan kürzlich als «fremdenfeindlich» bezeichnet, weil es keine Einwanderung wolle. Dabei öffnet die Regierung die Grenzen immer weiter.
Der amerikanische Präsident Joe Biden hat Japans Einwanderungspolitik zum globalen Politikum gemacht. Bei einer Wahlkampfveranstaltung warf er Japan neben China, Russland und Indien vor, «fremdenfeindlich» zu sein. Der Grund: Sie liessen keine Einwanderung zu. In Japans Hauptstadt Tokio war Biden in den vergangenen Jahren aber offenbar nicht.
Die Hauptstadt ist schon viel internationaler, als Biden es suggeriert. Besonders deutlich wird das im zentralen Stadtteil Shinjuku. Während der Ausländeranteil landesweit nur 2,4 Prozent beträgt, haben hier 37 Prozent der jungen Erwachsenen einen ausländischen Pass.
Auch in den Minisupermärkten, den rund um die Uhr geöffneten Convenience-Stores, ist der Wandel unübersehbar. Jede zehnte Teilzeitkraft bei den Ketten, rund 80 000 Personen, stammt gemäss einer neuen Umfrage schon aus dem Ausland. Manchmal erkennt man das an den nichtjapanischen Namen auf den Namensschildern, manchmal auch am Gesicht.
Das sind nur zwei Signale, dass Japans konservative Regierung die Grenzen für Ausländer weiter öffnen will. Seit Jahren reformiert die Regierung die bislang strengen Einwanderungsbestimmungen, um den wachsenden Arbeitskräftemangel durch Arbeitsmigranten zu verringern. Japans Ministerpräsident Fumio Kishida forciert die Öffnung sogar noch.
Die Regierung wolle eine integrative Gesellschaft schaffen, versprach Kishida bei der Reform eines Ausbildungsprogramms für geringqualifizierte Arbeitskräfte in diesem Jahr. «Wir wollen Japan zu einem Land machen, in dem ausländische Arbeitskräfte gerne arbeiten.»
Dabei konzentriert sich die Regierung auf gering und besonders hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Denn hier macht sich die rapide schrumpfende Bevölkerung in Form von Arbeitskräftemangel am stärksten bemerkbar. Nach einer Prognose der Denkfabrik Recruit Works Institute droht ein chronischer Arbeitskräftemangel, wie ihn noch niemand erlebt habe. Selbst die Grundversorgung der Bevölkerung wie durch die Müllabfuhr sei gefährdet.
Von Gastarbeitern auf Zeit zu dauerhafter Migration
Die langsame Wende drückt sich bereits in Zahlen aus. Im Jahr 2023 wurde erstmals die Marke von 2 Millionen ausländischen Arbeitskräften überschritten. Die meisten, rund 25 Prozent, kommen aus Vietnam. China ist wegen der dortigen Massnahmen gegen die Corona-Pandemie mit fast 400 000 Arbeitern auf den zweiten Platz abgerutscht, es folgen die rund 227 000 Migranten aus den Philippinen.
Die Zahl der insgesamt in Japan lebenden Ausländer ist im vergangenen Jahr um rund 400 000 Personen auf 3,4 Millionen Menschen hochgeschnellt, ein neuer Rekord. Und das sei erst der Anfang, meint der in Japan bekannte Ökonom Jesper Koll, der seit 1986 in dem Land lebt. «Man kann jetzt davon ausgehen, dass bis 2030 rund 10 Prozent der Arbeitskräfte Nichtjapaner sein werden», sagt der Ökonom. Derzeit seien es knapp 4 Prozent. «Japan wird ein Einwanderungsland werden.»
Es ist nicht der erste Versuch. In den 1980er Jahren führte eine Aktien- und Immobilienblase zu einem Wirtschaftsboom und Arbeitskräftemangel. In einem ersten Schritt warb die Regierung damals die Nachkommen der nach Brasilien ausgewanderten Japaner an, die sogenannten Nikkei.
Deren Integration gelang zwar oft nicht, aber der Arbeitskräftemangel vor allem in kleinen Unternehmen blieb. So wurde 1993 die erste Version eines Trainee-Systems eingeführt, bei dem offiziell Auszubildende drei Jahre für wenig Geld arbeiten dürfen und dann in ihre Heimat zurückkehren müssen.
Einige Wirtschaftszweige sind bereits stark von diesen Billigarbeitskräften abhängig. Laut einer Studie der Sasakawa-Stiftung hat sich der Anteil ausländischer Auszubildender in der Fischverarbeitung zwischen 2008 und 2018 auf 10 Prozent verdoppelt.
Das amerikanische Aussenministerium hat Japan wegen dieser Praxis bereits 2016 in seinem Bericht über Menschenhandel offen kritisiert. Ein Grund war, dass in vielen Ländern Mittelsmänner die Arbeitskräfte anwarben und dann von den Angeworbenen verlangten, die Anwerbe- und Reisekosten zu bezahlen.
In Japan klagten zudem immer mehr Praktikanten über schlechte Behandlung durch ihre Arbeitgeber, einbehaltene Pässe, nicht ausgezahlte Löhne. Die Regierung versprach Abhilfe. Doch erst im Februar 2024 konnten sich die regierende Liberaldemokratische Partei und ihr Koalitionspartner, die Neue Gerechtigkeitspartei, zu Reformen durchringen.
Globaler Wettbewerb um Arbeitskräfte zwingt Japan zu Visareformen
Dabei setzte die Regierung eine neue Linie im Einwanderungsrecht um, die den Zugang zu langfristigen und dauerhaften Aufenthaltsgenehmigungen erleichtert. Dies geschah relativ zügig für hochqualifizierte Arbeitskräfte in der Hightech-Industrie, um die weltweit immer mehr Länder werben.
Für Startup-Gründer ist der Zugang zu Arbeitsvisa bereits seit längerem erleichtert. Darüber hinaus gibt es eine Art sechsmonatiges Schnuppervisum für «digitale Nomaden», also reise- und arbeitswillige IT-Fachkräfte. Aber auch für langfristige Aufenthalte werden Ausländer umworben.
Seit Frühjahr 2023 können Hochqualifizierte auf einen Schlag ein fünfjähriges Arbeitsvisum erhalten, inklusive Familiennachzug und eingeschränkter Arbeitserlaubnis für Angehörige. Im Frühjahr dieses Jahres folgten neue Regelungen für geringqualifizierte Arbeitskräfte, die allerdings an bestimmte Bedingungen geknüpft sind.
Im Januar beschloss die Regierung sogar, erstmals seit Einführung spezieller Arbeitsvisa für bereits ausgebildete Arbeitskräfte im Jahr 2019 die Zahl der förderfähigen Branchen von 12 auf 16 zu erhöhen. Künftig sollen Ausländer auch als Taxi-, Bus- und Lkw-Fahrer, Zugbegleiter sowie in der Forst- und Holzwirtschaft arbeiten dürfen. Und Trainees, die Sprach- und Fachprüfungen bestehen, können künftig länger bleiben und ihre Familien nachholen.
In Japan gibt es kaum Proteste gegen Einwanderer
Doch mehr Ausländer anzuziehen, bleibt für Japan eine grosse Herausforderung. Ein Problem ist der Verfall des Yen. Die japanische Landeswährung hat in den vergangenen zwei Jahren rund 40 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren.
Der schwache Yen macht es für japanische Unternehmen schwieriger, Ausländer einzustellen, weil die Durchschnittslöhne in Japan im internationalen Vergleich sinken. In Dollar gerechnet liegt das Gehalt eines IT-Ingenieurs in Japan laut einer Studie des japanischen Personalberaters Human Resocia mit rund 36 000 Dollar hinter China.
Die Abwertung des Yen wirkt sich in den unteren Lohngruppen besonders stark aus. Denn dadurch verringert sich nicht nur der Abstand zu den Löhnen in den asiatischen Schwellenländern. Die Arbeiter können auch weniger Dollar an ihre Familien in der Heimat überweisen.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele positive Faktoren. Einer davon ist das Ausbleiben öffentlicher Proteste gegen mehr Zuwanderung. Das liegt nicht daran, dass es keine Fremdenfeindlichkeit gäbe. Einige Vermieter inserieren mit dem Hinweis: keine Ausländer.
Doch vor allem in der Wirtschaft wächst die Bereitschaft, mehr Zuwanderung zu wagen. So beklagte der Präsident der Industrie- und Handelskammer, Takashi Ueno, dass einige Mitgliedsunternehmen Aufträge ablehnen oder sogar schliessen müssten, weil sie nicht genügend Arbeitskräfte fänden.
Sein Lösungsvorschlag gleicht einem Appell an Regierung und Gesellschaft, alle möglichen Potenziale auszuschöpfen, um den Arbeitskräftemangel zu verringern, ohne Rücksicht auf bisherige Befindlichkeiten: Es gelte, so Ueno, die Beschäftigung von Frauen, Behinderten, Älteren und Ausländern zu fördern.