Seit Monaten schwelt an der Hochschule ein Konflikt. Jetzt versucht sie den Befreiungsschlag.
Sie kommen mit dem Rollstuhl in den Vorlesungssaal, schreiben ihre Seminararbeit mit dem Diktiergerät oder beissen sich mit chronischen Schmerzen durch die Abschlussprüfung. Wer mit Behinderung studiert, kämpft jeden Tag mit dem, was für andere Studierende ganz normal ist.
Eine unscheinbare Schwelle, ein klein bedruckter Prüfungsbogen, schlechte Akustik im Hörsaal oder manchmal schlicht der Gang aus dem Haus: Das ist für sie ein Problem.
Menschen mit Behinderung sind an Hochschulen klar untervertreten: 42 Prozent von ihnen verfügen über einen Abschluss auf Tertiärstufe, beim Rest der Bevölkerung sind es 51 Prozent. Bei Fällen schwerer Behinderung hat nur jeder und jede Vierte studiert.
Um Behinderten das Studium zu ermöglichen, sind Universitäten gesetzlich dazu verpflichtet, ihnen möglichst gleiche Rahmenbedingungen zu bieten wie allen anderen. Ist das nicht möglich, müssen sie Massnahmen ergreifen, um das Bildungsangebot den Bedürfnissen Behinderter anzupassen. So will es das nationale Behindertengleichstellungsgesetz.
Auch die Universität Zürich will «den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen aller Art gerecht werden», wie der Rektor Michael Schaepman auf der Universitäts-Website verkündet. Dort heisst es weiter: «Die Universität Zürich fördert eine Kultur der gelebten Vielfalt und setzt sich proaktiv für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten ein.»
«Erschreckende Unkenntnis»
Diese Versicherungen ziehen Studierende mit Beeinträchtigung und Behindertenverbände allerdings in Zweifel. Seit Monaten schwelt ein Konflikt zwischen ihnen und der Universitätsleitung.
Seraina Eisele vom Studierendenverband VSUZH sagt: «Die Universität zeigt eine erschreckende Unkenntnis im Bereich Inklusion. Sie scheint die tatsächlichen Bedürfnisse von Studierenden mit Behinderung nicht zu kennen. Trotzdem weigert sich die Universitätsleitung seit Monaten, mit uns in einen Dialog zu treten.»
Eisele sitzt in der Kommission Studium und Behinderung des VSUZH. Bis im Herbst war sie dort auch Vorstandsmitglied. Ausserdem vertritt sie die Studierendenschaft im grössten Zugänglichkeitsprojekt der Universität, «UZH Accessible».
Eisele, die Physik und Philosophie studiert, ist spürbar desillusioniert. Sie sagt über die Verantwortlichen in der Universitätsleitung: «Solange sie nicht müssen, tun sie nichts.»
Die Universität selbst sieht das anders: Sie bekenne sich «uneingeschränkt» zur Inklusion, heisst es in einem Statement vom Herbst. Barrieren würden systematisch abgebaut, Betroffene mit einbezogen und die Ressourcen dafür aufgestockt.
Radikal unterschiedliche Sichtweisen, die zeigen, wie gross der Graben zwischen Hochschule und Behindertenrechtsaktivisten in den letzten Monaten geworden ist.
Der Rektor polarisiert
Den Anfang der Kontroverse bildete ein Artikel der «Zürcher Studierendenzeitung» vom vergangenen Mai. Darin berichteten mehrere Betroffene von Bürokratie und langen Wartezeiten bei Hilfsgesuchen. An der Philosophischen Fakultät musste jeder Zehnte länger als die vorgesehenen sechs Wochen auf einen Bescheid warten, wie die Universität unterdessen nachgerechnet hat. Als Grund wurden krankheitsbedingte Ausfälle und ein starker Anstieg der Gesuche genannt.
Darauf folgte im September ein Interview mit dem Rektor Schaepman. In Anspielung auf die Hilfe für Behinderte, den sogenannten Nachteilsausgleich, sagte er: «Es ist nicht wertend gemeint, wir wollen ja möglichst alle berücksichtigen: Wir dürfen aber auch keinen ‹Vorteilsausgleich› sprechen. (Lacht).»
Das empörte die Behindertenkonferenz des Kantons Zürich (BKZ), die sich in einem offenen Brief «schockiert» zeigte und von «blankem Hohn» sprach. Der Rektor suggeriere, dass Hilfe für Behinderte einer ungerechtfertigten Bevorteilung gleichkomme.
Martina Schweizer, die Leiterin der Behindertenkonferenz, spricht gegenüber der NZZ von einer «problematischen Haltung» der Universität.
Weiterer Protest folgte. Besonders für Empörung sorgte dabei die Zugeknöpftheit der Universität: Nach eigenen Angaben erhielt die Behindertenkonferenz auf ihren offenen Brief keine Antwort. Dies, obwohl eine Sprecherin der Universität gegenüber «20 Minuten» versichert hatte: «Die UZH steht jederzeit gerne für ein Gespräch mit der BKZ zur Verfügung.»
«Keine grosse Dialogbereitschaft» attestiert Schweizer der Universität. Die Hochschule selbst will sich auf Anfrage der NZZ nicht zum Thema äussern.
«Dann würden andere reklamieren»
Die Kritik von Studierenden- und Behindertenvertretern zielt neben der grundsätzlichen Haltung der Universität vor allem auf zwei Dinge.
Zum einen ist da das Gesuchsverfahren für den Nachteilsausgleich. Dieses sei zu aufwendig und enthalte einen umfangreichen medizinischen Nachweis der jeweiligen Beeinträchtigung, sagt Eisele. Meist gehe es dabei um bleibende Probleme wie ein Geburtsgebrechen oder eine chronische Krankheit.
«Trotzdem muss man den Antrag jedes Semester von neuem stellen», sagt sie. «Ein Blinder muss zwei Mal im Jahr bestätigen, dass er immer noch blind ist.» Und auch Schweizer sagt: «Weniger Bürokratie würde der Universität und den Betroffenen guttun.»
In einem Statement vom Herbst schreibt die Universität, sie habe ihre Beratungskapazitäten und den Assistenzdienst für Menschen mit Behinderung unlängst durch zusätzliches Personal erweitert und strebe «kontinuierliche und messbare Verbesserungen» ihrer Angebote an.
Der andere Hauptkritikpunkt betrifft die Aufzeichnung von Vorlesungen als Podcasts. Diese wurden während der Pandemie rasch ausgebaut – etwas, was Studierende mit Beeinträchtigung sehr schätzten. In einer Umfrage der Universität gaben 64 Prozent von ihnen an, dass ihr Alltag durch die neuen Lernformen erleichtert worden sei.
Umso unverständlicher finden es Eisele und Schweizer, dass die Universität ihr Podcast-Angebot seither wieder reduziert hat. Der Uni-Rektor Schaepman begründete dies im erwähnten Interview so: «Wenn wir nur diesen Menschen Podcasts anbieten, würden wir diese bevorzugen und andere würden wegen Benachteiligung reklamieren.» Flächendeckende Aufnahmen drohten Studierende in die Isolation zu treiben.
Schweizer sieht das anders. Sie sagt: «Solche Aufnahmen erleichtern vielen das Studium. Wer es nicht in den Saal schafft oder die Vorlesung verlangsamt hören muss, kann sie trotzdem besuchen. Und an der Prüfung müssen am Ende ja alle dieselbe Leistung erbringen.»
Showdown – oder Befreiungsschlag
Ob die Universität und ihre Kritiker sich da noch finden?
Die nächste Chance dazu gibt es am Freitag. Dann findet an der Universität eine Podiumsdiskussion zu «Studieren und Arbeiten mit Behinderung» statt, die – je nach Sichtweise – Showdown oder Befreiungsschlag werden könnte.
Die Universität will dort ausführlich Stellung nehmen. Vorher, sagt eine Sprecherin, werde nicht mehr nach aussen kommuniziert.
Eisele hofft, dass an der Veranstaltung die seit Monaten geäusserte Kritik endlich offen diskutiert werde. Doch ihre Skepsis bleibt gross. Nicht geholfen habe dabei die Tatsache, dass der Anlass zunächst in einem Raum geplant gewesen sei, der laut der Website der Universität für Hör- und Sehgeschädigte nur eingeschränkt zugänglich ist. Im Januar kritisierten Studierende das.
Danach – das lässt sich im Website-Archiv Wayback Machine nachverfolgen – wurde der Raum angepasst.