Die Schweiz pflegt zum bevölkerungsreichsten Land der Welt eine spektakuläre Beziehungsgeschichte, die weit zurückreicht. Und nun von Erfolg gekrönt werden könnte.
Es ist ein Coup für die Schweizer Handelsdiplomatie: das Freihandelsabkommen mit Indien, das im März unterzeichnet wurde und das nun der Ständerat am Dienstag gutgeheissen hat (der Nationalrat wird im Frühjahr folgen). Wie aufwendig dieser Deal mit dem bevölkerungsreichsten Land der Welt war, zeigt die Dauer der Verhandlungen. 16 Jahre haben sie sich hingezogen, die politische Führung des Volkswirtschaftsdepartements wechselte dreimal.
Doch die Zeitrechnung müsste eigentlich anderswo beginnen: im Jahr 1948, als das eben erst unabhängig gewordene Indien mit der Schweiz einen «Freundschaftsvertrag» abschloss – den ersten solchen Vertrag mit einem anderen Staat überhaupt. Es ist ein so spektakuläres wie sonderbares Kapitel der Schweizer Aussenpolitik. Und es begründet die Beziehungsgeschichte zwischen den beiden Ländern.
Koloniale Profite
Dass der indische Premierminister Jawaharlal Nehru damals den Kontakt mit der Alpenrepublik sucht, ist kein Zufall. Er braucht nach der Unabhängigkeit von den Briten einen industriellen Boost für sein Land, das von Abermillionen von Armen bevölkert wird. Nehru ist ein Freund der Schweiz, hat in der Zwischenkriegszeit fast zwei Jahre dort verbracht, da sich seine kranke Ehefrau in Sanatorien kurierte; seine Tochter Indira (die später als Indira Gandhi das Land führen wird) schickte er nach Bex ins Mädcheninternat. Er schätzt die Ordnung und die Demokratie der Schweiz. Und auch, dass sie weder Grossmacht ist noch Kolonialmacht war.
Die Schweiz hingegen sieht eine Gelegenheit, aus der Isolation zu kommen, in die sie als neutraler Staat während des Zweiten Weltkriegs geraten ist. Eine globale Diversifikation der Beziehungen kann da nicht schaden. Vor allem aber will sie wirtschaftlich von Indien profitieren oder genauer: weiter profitieren.
Denn auch ohne Kolonialbesitz war die Schweiz mit der kolonialen Herrschaft mannigfach verbunden. Schon früh kämpfen eidgenössische Söldner auf dem Subkontinent. Später schwärmen Missionare aus Basel aus, um die Inder zu bekehren; sie bauen Schulen, Spitäler, Waisenhäuser, gründen Ziegeleien und Webereien.
Bald nutzen Schweizer Unternehmen die koloniale Infrastruktur für ihre Interessen, allen voran das 1851 in Winterthur und Bombay, dem heutigen Mumbai, gegründete Handelshaus Volkart. Es importiert indische Rohstoffe nach Europa und exportiert europäische Konsum- und Industriegüter nach Indien. Volkart steigt zu einem der grössten Baumwollexporteure Indiens auf, baut allein in Indien bis in die 1920er Jahre 80 Zweigstellen auf, übernimmt für die Schweiz sogar konsularische Dienste. Und Volkart ist nicht allein: Die Firma Escher-Wyss etwa liefert Lokomotiven nach Indien und ist wichtiger Akteur im Eisenbahnsektor.
An diese Tradition versucht die Schweiz nach Indiens Unabhängigkeit anzuknüpfen. Der «Freundschaftsvertrag» von 1948 ist nur ein erster Schritt. Ein Jahr später wird bereits ein bilaterales Handelsabkommen geschlossen. Premierminister Nehru besucht die Schweiz, besichtigt Industrieunternehmen, wird von der Politik und Presse hofiert.
Aussenminister Max Petitpierre ist nach einem gemeinsamen Abendessen angetan vom hohen Gast: «Dabei fiel mir besonders auf, wie lebhaft sein intelligentes und tiefes Gespräch sich in seinem Gesichtsausdruck widerspiegelt und wie er plötzlich, fast mitten im Gespräch, die Rede abbricht, um in ein meditierendes Schweigen zu versinken.»
Klotzen statt Kleckern
In den 1950er Jahren gehören Schweizer Firmen zu den ersten grösseren Investoren in Indien. Täglich fliegt die Swissair nach Bombay. Diejenigen, die bereits in der Kolonialzeit vor Ort gewesen sind, bauen weiter aus: Nestlé, Geigy, Brown Boveri, Hoffmann-La Roche, Sandoz, Ciba, Georg Fischer, Maschinenfabrik Oerlikon-Bührle, Schindler, Sulzer, Rieter – die klingenden Namen der Schweizer Wirtschaftsgeschichte. Allein zwischen 1957 und 1982 heisst die indische Regierung über 380 Kooperationsverträge zwischen schweizerischen und indischen Unternehmen gut.
Zeitweise ist die Eidgenossenschaft die drittwichtigste Investorin – und dies «in Erkenntnis der sich für ausländische Investoren in einem Land mit einem Markt von Hunderten von Millionen Nachfragern bietenden Chancen», wie es das Volkswirtschaftsdepartement einmal formuliert. Oder 1977 in einem vertraulichen Papier: «Indien mit seinen 600 Millionen Menschen ist zweifellos ein Markt der Zukunft. Auch geringe Erhöhungen des Lebensstandards setzen eine grosse Nachfrage frei.»
Indien wird zugleich zum «Schwerpunktland» der Schweizer Entwicklungshilfe – wer mehr hat, konsumiert schliesslich auch mehr. Aber nicht nur: Das blockfreie Indien wird im Kalten Krieg vom Westen als das «wichtigste Bollwerk der Demokratie in Asien» gesehen, das gestärkt werden müsse. Dutzende Millionen fliessen jährlich aus der Schweiz in den Süden.
Ein Prestigeprojekt liegt im Bundesstaat Kerala, wo die Schweiz ab 1963 Milchgenossenschaften unterstützt. «Dort wurde durch Kreuzung einheimischer Zebus mit schweizerischem Braunvieh eine wesentlich leistungsfähigere Rindviehrasse gezüchtet», bilanziert zehn Jahre später ein Diplomat stolz. Auch der Futterbau kann verbessert und der Milchertrag gesteigert werden, die Erfolgsprojekte werden auf andere Regionen ausgeweitet.
Kritik an der üppigen Entwicklungshilfe gibt es nur, als Indien 1974 in der Wüste Rajasthans seine erste Atombombe zündet. «Ist der Bundesrat nicht auch der Meinung, dass unsere Hilfe so lange unterbunden werden soll, als die Regierung des Landes Atombombenentwicklung betreibt?», heisst es in einem Vorstoss im Parlament – der indes folgenlos bleibt. Vielleicht auch, weil die eidgenössische Diplomatie in jenen Jahren Gute Dienste leistet im Konflikt zwischen Indien und Pakistan.
Die Schweiz schreibt sich buchstäblich in die indische Landschaft ein, nicht nur mit Fabriken und Schienen. Le Corbusier entwirft und realisiert die Stadt Chandigarh, Werner Max Moser wirkt in Kalkutta und Kharagpur als Architekt und Stadtplaner. Und in der Hauptstadt Delhi plant Hans Hofmann, der Architekt der legendären Landesausstellung «Landi 39», die neue Botschaft der Schweiz, die 1963 eröffnet wird: ein eleganter, modernistischer Bau auf schlanken Stützen und mit grosszügiger Gartenanlage – Repräsentation ohne falsche Zurückhaltung. Aussenminister Max Petitpierre rechtfertigt sich: «Ein Gebäude von minderer Qualität würde in Indien nicht als Zeichen unserer Bescheidenheit angesehen werden, sondern eher als Ausdruck des geringen Interesses, das wir an dem Land haben.»
Yogis und Riz Casimir
Tatsächlich ist das Interesse in der Schweiz so gross, dass sich die Botschaft bald auch mit unangenehmen Erscheinungen herumschlagen muss. Ab den späten 1960er Jahren reisen Tausende von Weltenbummlern auf dem «Hippie-Trail» nach Indien, auch aus der Schweiz. Sie sind «von manchen Botschaften als Störenfriede und Schädlinge für das Image ihres Landes gefürchtet», schreibt 1969 der Indien-Korrespondent der NZZ. «Fast täglich» müsse er sich mit ihnen befassen, meldet der Schweizer Botschafter in Delhi nach Bern – wegen Problemen mit dem Pass, dem Geld, dem Gesetz.
Es sind indes keineswegs nur Abenteurer, die sich für Indien und dessen Kultur interessieren. Die Frau des Besitzers des Restaurants Hiltl in Zürich nimmt 1951 an einem Vegetarierkongress in Delhi teil und ist so begeistert von der indischen Küche, dass sie diese im eigenen Betrieb einführt. Ein Jahr später kommt in den Mövenpick-Restaurants erstmals Riz Casimir auf die Speisekarte: Geschnetzeltes an einer Curryrahmsauce, Reis, dazu Südfrüchte aus der Dose – für viele Schweizerinnen und Schweizer ist es die erste Bekanntschaft mit einer indischen Gewürzmischung. Selbstverständlich ist der Subkontinent über die Kulinarik hinaus ein Faszinosum.
Spiritualismus, Yoga, ayurvedische Medizin oder Meditation – das alles hat eine lange Tradition und erreicht nun auch die breite Bevölkerung. Indische Gurus wie Maharishi Mahesh Yogi in Seelisberg oder Swami Omkarananda in Winterthur beschäftigen die Öffentlichkeit. Ein anderes, dunkles Thema ist die Adoption von über 2000 indischen Kindern durch Schweizer Paare ab Ende der 1970er Jahre. «Die Botschaft hat sich geflissentlich von einer aktiven Beteiligung an dieser eher fragwürdigen Vermittlung ferngehalten», kritisiert der Botschafter in Delhi 1984.
Umgekehrt bewundern viele Inder die Schweiz. «Alle Länder wünschen, glücklich zu sein, aber die Schweiz ist der einzige Staat, der diesen Wunsch erfüllen konnte», sagt der indische Präsident Giri 1970 in Bern – erstmals in der Geschichte darf ein ausländischer Staatsgast vor dem Schweizer Parlament reden. Besonders wirksam sind aber nicht Worte, sondern Bilder, vor allem jene aus der Traumfabrik Bollywood.
Ab den 1970er Jahren werden die Alpen zur Filmkulisse: Sie ersetzen Aufnahmen aus der Himalaja-Region Kaschmir, in der wegen des Konflikts mit Pakistan keine Aufnahmen mehr möglich sind. Und sie machen die Schweiz zu einer Topdestination für indische Touristen. 1984 berichtet der Botschafter in Delhi: «Es gehört zum guten Ton, einmal mit der Swissair nach Zürich oder Genf geflogen zu sein.» Im Jahr 1989 besuchen bereits fast 100 000 Inder die Schweiz (während «nur» 32 000 Schweizer nach Indien reisen).
Schneeleoparden aus Zürich
Das mag darüber hinwegtrösten, dass es wirtschaftlich lange nicht so schnell vorwärtsgeht wie erhofft. 1970 heisst es in einem vertraulichen Bericht: «Die Zusammenarbeit schweizerischer Industrien mit indischen Partnern durchläuft gegenwärtig einige kritische Phasen.» Viele Unternehmen würden aber weitermachen, um «den Fuss in der Türe zu haben». 1975 kabelt der Botschafter in Delhi nach Bern: «Die Zurückhaltung schweizerischer Unternehmer, ihre Investitionen zu verstärken, ist zweifelsohne auf die Ungewissheit der indischen Wirtschaftspolitik der letzten Jahre zurückzuführen.» Das Problem: Regulierungen, Zölle, drohende Nationalisierungen.
Noch 1991 betont das Aussendepartement: «Aus schweizerischer Sicht entspricht das Volumen unserer Handelsbeziehungen mit Indien nicht der Grösse und Bedeutung des indischen Marktes.» Bundesrat René Felber reist im selben Jahr nach Indien. Als Freundschaftsgeschenk bringt er drei junge Schneeleoparden aus dem Zoo Zürich mit. Ein von dessen Direktor organisiertes Dankeschön für die zwei seltenen indischen Löwen, die Indiens Regierung der Schweiz zur 700-Jahr-Feier geschenkt hat. Die Anekdote zeigt: Die Beziehungen sind weiter sehr gut.
Der Bundesrat entfaltet in der Folge eine rege Reisetätigkeit, die ihn nach Indien führt, um eine «privilegierte Partnerschaft» zu etablieren. Nicht zuletzt weil sich die indische Wirtschaft rasant dynamisiert und das Land von aller Welt bestürmt wird. Es resultieren ein Doppelbesteuerungs-, ein Investitionsschutz-, ein Wissenschaftsabkommen. Und nun sogar ein umfassendes Freihandelsabkommen – ein Kunststück, das weder der EU noch Grossbritannien gelungen ist.