Eine Polizeikontrolle, die im Jahr 2009 in Zürich aus dem Ruder lief, beschäftigt nach 14 Jahren immer noch die Justiz. Auch das Obergericht hat einen 48-jährigen Polizisten nun freigesprochen.
Vor dem Gebäude des Obergerichts demonstrieren Aktivisten der Allianz gegen Racial Profiling, zuvor hielten sie in der Helferei eine Medienkonferenz ab, bei der auch das angebliche Polizeigewaltopfer als «Wilson A.» auftrat. Im Gerichtssaal betont der vorsitzende Richter dann allerdings ziemlich früh: «Ein Racial Profiling ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.» In der Anklage werde dem beschuldigten Polizisten gar kein Racial Profiling vorgeworfen.
Es sei den ursprünglich drei angeklagten Polizisten von der Staatsanwaltschaft nie zum Vorwurf gemacht worden, dass ihre Kontrolle unrechtmässig gewesen sei. Das Gericht sei an die Anklage gebunden und habe nur einen Anklagesachverhalt juristisch zu beurteilen.
Auslöser seiner Erklärungen sind zahlreiche Beweis- und Sistierungsänträge des Anwalts des Privatklägers Wilson A., die vom Gericht nach halbstündiger Beratung allesamt abgelehnt werden. Sämtliche dieser Anträge seien bereits früher gestellt und abgelehnt worden.
Der Gerichtssaal ist mit Zuschauern prall gefüllt. Als diese während der Befragung des beschuldigten Polizisten mehrmals akustische Reaktionen von sich geben, droht der Gerichtsvorsitzende den Saal im Wiederholungsfall räumen zu lassen und den Prozess ohne Publikum weiterzuführen. Dazu kommt es dann aber nicht.
Freisprüche von zwei Polizisten bereits früher akzeptiert
Vor den drei Oberrichtern sitzt ein 48-jähriger Stadtpolizist. Zusammen mit einer Arbeitskollegin und einem Arbeitskollegen wurde er im April 2018 vom Bezirksgericht Zürich vom Vorwurf des Amtsmissbrauchs und der Gefährdung des Lebens freigesprochen. Zwei der Freisprüche sind rechtskräftig. Der heute 50-jährige Wilson A. hat nur den Freispruch des 48-Jährigen angefochten, welcher Vorgesetzter der beiden anderen war. Sein Anwalt fokussiert sich auf die Behauptung, dass Wilson A. von diesem Polizisten gewürgt worden sein soll.
Die Staatsanwältin, die das Verfahren ursprünglich mehrfach hatte einstellen wollen und erstinstanzlich selber auf Freisprüche plädiert hatte, hat sich für den Berufungsprozess dispensieren lassen. Sie beantragt Bestätigung des Freispruchs.
Im Oktober 2009 wollten drei Angehörige der Zürcher Stadtpolizei nachts gegen 0 Uhr 45 in einem Tram der Linie 9 zwei dunkelhäutige Männer kontrollieren. Wilson A., ein damals 36-jähriger gebürtiger Nigerianer, weigerte sich, seinen Ausweis zu zeigen. Er soll den Polizisten sofort vorgeworfen haben, ihr Verhalten sei rassistisch. Und er wurde wütend.
Der Privatkläger beschuldigt die Polizisten, ihn bei der Kontrolle zusammengeschlagen, gewürgt und mit Pfefferspray besprüht zu haben. Dies, obwohl er sie auf eine Herzoperation und seinen Herzschrittmacher aufmerksam gemacht habe. Die Polizisten sprachen vor Vorinstanz von einer Notwehrsituation. Der Mann habe sie angegriffen, und von einer Herz-OP sei nie die Rede gewesen.
Vor Bezirksgericht hatte der inzwischen verstorbene Rechtsanwalt des Privatklägers acht Stunden lang plädiert, letztlich vergebens.
Rechtsanwalt spricht von «Blutwürger»
Im Berufungsprozess betont der neue Anwalt von Wilson A., es sei eben gerade der springende Punkt des Falls, dass das Racial Profiling nicht angeklagt sei. Es stimme nicht, dass die Kontrolle rechtmässig gewesen sei. Seit Jahren würden alle Anträge des Privatklägers abgelehnt, mit denen er das beweisen könnte. In seinem Vortrag hält sich der Anwalt an eine Redezeitbeschränkung von zwei Stunden, die ihm vom Obergericht aufgrund der Erfahrungen vor Vorinstanz auferlegt worden ist.
Der Anwalt verlangt in seinem Hauptantrag, eine Verurteilung des Polizisten wegen eventualvorsätzlicher versuchter Tötung und Amtsmissbrauchs. Der Polizist habe seinen Mandanten von hinten zehn Minuten lang in einen Würgegriff genommen, den sogenannten «Blutwürger». Dass es keine Notwehrsituation für die Polizisten gewesen sei, belege das deutliche Verletzungsbild seines Mandanten, während die Polizisten keinen Kratzer erlitten hätten.
Die Beschränkung der Berufung auf den 48-Jährigen sei erfolgt, weil dieser als Vorgesetzter die Befehlsgewalt über die beiden anderen Polizisten ausgeübt habe.
Der Verteidiger hält gemäss eigenen Angaben «das kürzeste Plädoyer, das er je gehalten» habe. Beim Vorfall handle es sich nicht um Racial Profiling. Das Reizwort sei von der Verteidigung nur eingebracht worden, um mediale Aufmerksamkeit zu erregen. Die Kontrolle sei erfolgt, weil Wilson A. einem Mann auf einem Fahndungsfoto ähnlich gesehen habe. Der Privatkläger habe dann verhaftet werden müssen, weil er sich fürchterlich aufgeregt habe. Die Polizisten hätten vorschrifts- und verhältnismässig reagiert.
5000 Franken Genugtuung für den Angeklagten
Das Obergericht spricht den beschuldigten Polizisten am Abend frei. Er erhält eine Genugtuung von 5000 Franken. Der Gerichtsvorsitzende zitiert ausführlich aus der vorinstanzlichen Begründung der Freisprüche der beiden anderen Polizisten und erklärt, es sei absurd, wenn der Privatkläger die Begründungen dieser Freisprüche akzeptiert habe und trotzdem eine Verurteilung des 48-Jährigen fordere.
Der Anwalt des Privatklägers habe «trotzig» komplett an der Aktenlage vorbeiargumentiert, erklärt der Richter. Ein Racial Profiling habe nicht stattgefunden. Die Polizei habe an jenem Abend einen dunkelhäutigen Mann gesucht, und sie habe einen dunkelhäutigen Mann kontrolliert. Wenn sie einen weissen Mann gesucht hätte, hätte sie weisse Männer kontrolliert. Was der Privatkläger letztlich verlange, sei, dass dunkelhäutige Männer gar nicht mehr polizeilich kontrolliert werden dürften. Das sei «wirklich weltfremd».
Der Privatkläger habe die Situation durch sein eigenes Verhalten eskalieren lassen. Die Aktenlage ergebe ein «völlig klares und zwingendes Bild»: Der Privatkläger habe völlig widersprüchlich ausgesagt. Es gebe keinerlei Indizien für ein 10-minütiges «Blutwürgen». Es gebe weder medizinische Indizien dafür, noch habe Wilson A. dies selber geschildert. Sein Kollege habe Aussagen von ihm nicht bestätigt und auch kein Würgen erwähnt. Die Aussagen der Polizisten seien hingegen glaubhaft.
Urteil SB180444 vom 15. 2. 2024, noch nicht rechtskräftig.