Bisher unbekannte Zahlen zeigen: An der Goldküste und in manchen Agglo-Gemeinden boomt ein Parallelsystem.
Beni Stockmann hat ein Credo: «Wir wollen unsere Schülerinnen und Schüler so ins Berufsleben abgeben, dass sie dort funktionieren.»
Was selbstverständlich tönt, ist es für ihn nicht immer. Denn Stockmann ist der Sozialverantwortliche in der Schulpflege der Sekundarschule Dübendorf, einer «Stadt am Rand der Grossstadt», wie er es nennt, «mit den entsprechenden sozialen Problemen».
Wie Schulen im ganzen Kanton Zürich ist jene von Stockmann mit einem Problem konfrontiert, das seit Jahren zunimmt: Immer mehr Schülerinnen und Schüler weisen derart grosse Beeinträchtigungen oder Verhaltensauffälligkeiten auf, dass sie einen Sonderschulstatus erhalten.
Gab es 2004 noch weniger als 3000 Zürcher Schulkinder mit entsprechendem Unterstützungsbedarf, sind es im Schuljahr 2023/24 fast dreimal so viel.
In Dübendorf kommen zu diesem Trend noch Herausforderungen hinzu, mit denen laut Hartmann viele förderbedürftige Schülerinnen und Schüler zu kämpfen hätten: tiefe Einkommen, viele Alleinerziehende, kleine Wohnungen, in denen kaum Platz fürs Hausaufgabenlösen bleibe.
«Da explodieren in der Pubertät manchmal die Probleme», sagt Stockmann. «Wir als Schule haben dann die Chance, jemandem auf die Beine zu helfen, damit er später der Allgemeinheit nicht zur Last fällt.»
Im äussersten Fall heisst das: Die Person wird aus der Regel- in eine Sonderschule umplatziert. Er habe viele Fälle erlebt, in denen das für einen jungen Menschen die Rettung gewesen sei, sagt Stockmann. Aber: «Es hat in den staatlichen Sonderschulen einfach viel zu wenig Plätze. Sie sind immer voll.» Fast die Hälfte ihrer Sonderschüler schickt die Sekundarschulgemeinde deshalb an eine Privatschule.
Hunderte finden keinen Platz
Dübendorf ist damit nicht allein. Bisher unveröffentlichte Zahlen zeigen: Weil passende Plätze in staatlich anerkannten Sonderschulen fehlen, weichen etliche Zürcher Gemeinden auf private Alternativen aus, die über keine Akkreditierung durch den Kanton verfügen.
In insgesamt 20 Zürcher Schulgemeinden gehen über 30 Prozent der Sonderschüler an ein privates Institut. In fünf Gemeinden ist es gar jedes zweite bis dritte Kind mit Sonderschulstatus. Das zeigen Daten der Zürcher Bildungsdirektion, die die NZZ gestützt auf das Öffentlichkeitsprinzip erhalten hat.
Insgesamt 847 Sonderschülerinnen und Sonderschüler sind es demnach, die im Kanton keinen Platz in einer staatlich anerkannten Sonderschule finden. Das ist etwa ein Fünftel aller separiert unterrichteten Sonderschüler.
All diese Kinder fanden bis vor kurzem noch nicht einmal Eingang in die kantonale Sonderschulstatistik. Für das Schuljahr 2023/24 wurden sie erstmals aufgeführt. Zuvor blieb ein relevanter Anteil von Kindern mit Förderbedarf ungezählt – und damit unsichtbar.
Ein Fünftel der Zürcher Sonderschüler wird in einem nicht einheitlich regulierten und weitgehend unsichtbaren Parallelsystem unterrichtet.
Denn: Anders als staatlich anerkannte Sonderschulen haben private keine fixen Vorgaben – etwa dazu, ob und wie viele ausgebildete Heilpädagogen eingesetzt werden. Sie werden auch nicht durch den Kanton akkreditiert, wie das bei den staatlichen Anbietern der Fall ist. Die Gemeinden können die Kontrolle nach Gutdünken ausgestalten.
Eigentlich gelten Privatschulen deshalb als Ultima Ratio, als letzte Möglichkeit. Doch vielerorts ist diese Ausnahme längst zum Normalfall geworden.
«Müssen kreativ werden»
Nicht alle Schulen gehen diesen Weg. In 56 Gemeinden wird kein Kind, in 87 Gemeinden werden nur ein bis fünf Kinder an einer privaten Sonderschule unterrichtet. In diesen Kommunen weiss man sich mit internen Ressourcen oder den staatlichen Lösungen zu helfen.
Anders sieht das in Orten wie Dübendorf aus. Dort beklagt nicht nur die Sekundar-, sondern auch die Primarschulgemeinde einen gravierenden Mangel an geeigneten staatlichen Sonderschulplätzen im Umfeld der Gemeinde.
Eine Einschätzung, die auch Egon Watzlaw teilt, der Schulpflegepräsident von Seuzach in der Agglomeration von Winterthur. Keine Schulgemeinde im Kanton hat gemessen an ihrer Grösse so viele privat unterrichtete Sonderschüler: 2 Prozent aller Schulkinder.
Er habe sich auch schon an den Kanton gewandt, mit der Bitte, endlich mehr Sonderschulplätze in sinnvoller Distanz zu seiner Gemeinde zu schaffen, sagt Watzlaw. Ohne Erfolg. «Um unsere Schulen zu entlasten, mussten wir kreativ werden», sagt er.
Müsse ein Kind lange auf einen Platz in einer Sonderschule warten, belaste dies oftmals alle Involvierten. Es brauche im Schulalltag zusätzliche Heilpädagogen, womöglich gar eine aufwendige 1:1-Betreuung. «Dabei wollen wir wenn immer möglich verhindern, dass zu viele Lehrpersonen im Klassenzimmer sind.»
Private sind günstiger
Was dazukommt, von den Betroffenen aber nur hinter vorgehaltener Hand gesagt wird: Private Schulen sind für die Gemeinden oftmals günstiger als staatlich anerkannte.
Für Letztere muss eine Gemeinde 55 000 Franken pro Jahr und Kind bezahlen (dazu kommt zusätzlich ein Kantonsbeitrag). Bei den Privaten nennen angefragte Schulgemeinden Beträge von um die 30 000 Franken, wobei diese Zahl im Einzelfall stark variieren könne.
Spielen beim Boom um die privaten Sonderschulen also auch tiefere Kosten eine Rolle?
Bei seiner Gemeinde sei das nicht so, versichert Beni Stockmann aus Dübendorf. «Es geht allein um das Wohl des Kindes. Niemand wird in eine Sonderschule abgeschoben.»
Egon Watzlaw aus Seuzach spricht seinerseits von «pragmatischen Überlegungen»: «Es muss nicht jedes Kind in eine spezialisierte heilpädagogische Schule.» Manchmal sei ein Setting in einer Privatschule sinnvoller, wenn dadurch beispielsweise ein langwieriger und teurer Anfahrtsweg vermieden werde.
Eltern wollen mitentscheiden
Neben fehlenden staatlichen Plätzen und tieferen Kosten gibt es noch eine weitere mögliche Erklärung für den Boom privater Angebote: die Wünsche der Eltern.
Dazu lohnt sich ein Blick auf das rechte Zürichseeufer. Dort finden sich überdurchschnittlich viele Gemeinden, die ihre Sonderschüler nicht an staatlich anerkannte Schulen schicken. In Männedorf, Oetwil am See und Stäfa liegt der Anteil privater Sonderschüler bei 30 bis 40 Prozent. In der Goldküstengemeinde Küsnacht geht jeder zweite Sonderschüler an ein privates Institut, in Zollikon sind es gar drei von vier.
Nach dem Grund gefragt, verweist der Zolliker Leiter Bildung, Urs Rechsteiner, auf dieselben Faktoren, die auch diverse seiner Kollegen nennen: fehlende staatliche Plätze, tiefere Kosten.
Er gibt jedoch noch etwas Weiteres zu bedenken: «Der Entscheid, ein Kind in eine Sonderschule zu schicken, ist meist ein langer und diffiziler Prozess.» Wenn immer möglich werde zuerst die Integration in die Regelklasse angestrebt. Gelinge das nicht, folgten umfangreiche Abklärungen. Wenn der Entscheid für eine externe Sonderschule dann falle, sei das Kind oftmals so weit in seiner Schullaufbahn fortgeschritten, dass man nicht nochmals ein Jahr auf einen frei werdenden Platz warten könne.
«Eine private Lösung bietet da oftmals eine schnelle und massgeschneiderte Lösung», sagt Rechsteiner.
Eigentlich liegt es in der Kompetenz der Schulbehörden, die Platzierung in einer Sonderschule zu verfügen. Eine freie Schulwahl gibt es in der Volksschule nicht. «In meiner Erfahrung», sagt der Zolliker Leiter Bildung, «sind aber nur mit Einbezug der Familie gute Lösungen möglich.»
Man arbeite dabei jedoch mit Privatschulen zusammen, «die wir selbst geprüft und mit denen wir gute Erfahrungen gemacht haben».
Frei wünschen können die Eltern also – zumindest theoretisch – nicht. Wer das will, muss seine Kinder aus der öffentlichen Schule nehmen. Etwas, das Eltern in den Goldküstengemeinden bei allen Kindern überdurchschnittlich oft tun.
Ein System-Problem?
Klar ist: Ob nun auf Wunsch oder aus Notwendigkeit dort platziert – die grosse Anzahl Sonderschüler in privaten Einrichtungen verweist auf ein grösseres Problem. Es gibt, so sind zumindest die besonders betroffenen Gemeinden überzeugt, zu wenig Kapazitäten für separierten Unterricht in einem auf Integration getrimmten Schulsystem.
Je stärker dieses System überlastet ist, desto mehr Kinder landen in Sonderschulsettings. Und, wenn die Plätze knapp werden, in Privatschulen. Eine Dynamik, die gegenüber der SRF-«Rundschau» und der «NZZ am Sonntag» auch Schulvertreter aus dem Aargau, Luzern und Thurgau beschreiben.
Anders sieht die Sache der Kanton Zürich. Die Sonderschulplätze würden «aufgrund des bisherigen Bedarfs und des Wachstums der Gesamtschülerzahl berechnet», schreibt die Bildungsdirektion der NZZ. Es gebe keinen Grund, diese Zahl kleiner als nötig anzusetzen.
Die Behörde wehrt sich auch gegen den Vorwurf, man habe durch den langjährigen Ausschluss privater Schüler aus der Sonderschulstatistik das Ausmass des Phänomens künstlich klein gehalten. Man habe diesen Wert allein deshalb nicht erhoben, weil der Kanton sich nicht an der Finanzierung solcher Lösungen beteilige. Erst kürzlich habe sich dann gezeigt, «dass diese Zahl von Relevanz ist».