Die Swiss will eine Premium-Airline sein, gehört aber zu den unpünktlichsten Airlines Europas. Schuld ist die Bise: Wenn der Ostwind bläst, bricht am Flughafen Zürich Hektik aus. Eine Reportage vom windanfälligsten Airport Europas.
28 Grad, Sonnenschein, keine Wolke am Himmel. Der perfekte Tag zum Fliegen, könnte man meinen. Doch hinter den Glasfassaden des Flughafens Zürich bricht Hektik aus.
Im Tower hoch über dem Terminal A halten Fluglotsen anfliegende Maschinen in der Warteschlaufe. Auf dem Rollfeld verschieben sich plötzlich die Fahrzeuge. Im Operations Center der Swiss, welches etwas abseits vom Passagierbereich liegt, werden bereits Überstunden geschoben. Es müssen Alternativrouten herausgesucht und Hotelzimmer für gestrandete Fluggäste reserviert werden.
Diese realisieren langsam, dass etwas im Gange ist. Sie erhalten SMS und E-Mails von den Airlines, dass sich ihre Reise um Stunden verspäte. Doch warum, das verstehen sie nicht. Das Wetter ist doch strahlend?
Es liegt am Wind, er hat gedreht. Das Schreckgespenst aus dem Osten ist zurück: die Bise. Sie bringt das System Flughafen Zürich an den Rand des technisch Machbaren.
Swiss ist die Hauptleidtragende
Das Wort Bise für Winde aus nordöstlicher Richtung kennt man fast nur in der Schweiz. Biswinde treten auf, wenn sich im Norden ein Hoch- und über dem Mittelmeer ein Tiefdruckgebiet bildet. Dazwischen kommen Luftströme in Bewegung, die über das Schweizer Mittelland ziehen. Im Winter bringt die Bise kalte und feuchte Luft mit sich, im Sommer warme und trockene. Ein ganz normales Wetterphänomen.
Bläst der Ostwind jedoch zu stark, muss der Flughafen Zürich auf das sogenannte Bisenkonzept umstellen. Zwischen den landenden Flugzeugen gilt statt normalerweise drei Meilen plötzlich ein Sicherheitsabstand von fünf Meilen. Damit verliert der Flughafen auf einen Schlag 40 Prozent seiner Kapazität. Pro Stunde können statt 40 nur noch 24 Maschinen landen.
Das führt zu einem langen Rückstau. Die Verspätungen türmen sich auf und können an Bisentagen kaum mehr aufgefangen werden. Mark Ansems, Leiter des Operations Control Center der Fluggesellschaft Swiss, nennt Zürich deshalb den «windanfälligsten Grossflughafen Europas».
Schon ab einer Windgeschwindigkeit von zehn bis elf Knoten kommt am Flughafen das Bisenkonzept zum Einsatz. Doch die Passagiere checken nicht, warum. Wie sollen sie auch: Winde dieser Stärke sind doch kein Sturm! Im Gegenteil. Es sind laue Lüftchen. «Wenn es blitzt oder schneit, haben Passagiere Verständnis, dass sich Flüge verspäten», sagt Ansems, «aber wenn die Sonne scheint und es ein bisschen windet, ist es für viele schwer nachvollziehbar.»
Die Swiss ist die Hauptleidtragende der Situation. Zwar landen viele verschiedene Airlines in Zürich. Aber die Swiss hat mit Abstand am meisten Flüge. Sie betreibt hier einen sogenannten Hub, also ein Drehkreuz für Umsteigepassagiere. Diese fliegen möglicherweise von Tokio nach Zürich und von dort weiter nach Kopenhagen. Ankünfte und Abflüge sind aufeinander abgestimmt. Das setzt aber Pünktlichkeit voraus, weil sonst die Anschlussflüge futsch sind.
Am Flughafen Zürich sind rund 30 Prozent Umsteigepassagiere. Fluggäste, die eigentlich gar nicht in die Schweiz wollen, aber hier einen Zwischenstopp einlegen, sind wirtschaftlich enorm wichtig für die Swiss. Sie helfen mit, die grossen Langstreckenmaschinen zu füllen. Ohne sie könnte die Swiss nicht so viele Flugverbindungen ausserhalb Europas anbieten. Der Schweizer Markt ist dafür zu klein.
Ob wegen Streiks, Pannen bei der Technik oder dem Wetter: «Immer wenn es im Luftverkehr irgendwo stockt, tragen wir die finanziellen Konsequenzen», sagt Mark Ansems. Er meint damit die Luftfahrtgesellschaften. «Die Hauptleidtragenden sind aber natürlich die Passagiere.»
Als Airline verdient man Geld, wenn ein Flugzeug in der Luft ist. Steht es aber wegen Verzögerung am Boden herum, kostet jede Minute. Um die vielen Unpünktlichkeiten aufzufangen, hat die Swiss allein in Zürich vier Reserveflugzeuge samt Crews stationiert, ein weiteres in Genf. Das ist teuer, doch es ist nötig. Die Ersatzjets sind eigentlich permanent im Einsatz.
Zeichnet sich ein Bisentag ab, dann wird eine ganze Maschinerie hochgefahren. Monatelang geplante Flüge müssen plötzlich umgeleitet und Crews neu eingeteilt werden. Swiss-Mitarbeiter checken für ihre Kunden die Möglichkeiten ab: Warten lassen? Eine alternative Verbindung buchen? Oder eine Übernachtung im Hotel?
Gerade Letztgenanntes ist nicht immer so einfach. Wenn an einem Wochenende in Zürich ein Grosskonzert im Letzigrund und ein Kongress im Hallenstadion stattfinden, sind viele Betten ausgebucht. Dann werden Passagiere bis nach St. Gallen untergebracht. «Wir versuchen immer, für jeden einzelnen Passagier die bestmögliche Lösung zu finden», sagt Ansems.
Oberste Maxime der Swiss: Keine Annullationen! Statt Flüge zu streichen, fliegt die Swiss lieber verspätet. Dies, obwohl es oftmals einfacher wäre, die Verbindungen gar nicht mehr durchzuführen. Das macht die Swiss mit über 98 Prozent durchgeführten Flügen zwar sehr zuverlässig. Doch im Gegenzug sind auch über ein Drittel aller Flüge verspätet.
Im ersten Halbjahr 2024 verzeichnete der Flughafen Zürich 13 Bisentage. Das ist vergleichsweise wenig. Im wettermässig prächtigen Mai 2023 musste der Flughafen fast an jedem Tag auf das Bisenkonzept umstellen. In der Tendenz bläst der Wind immer häufiger aus östlicher Richtung. Das zeigt eine Auswertung, welche das Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie (Meteo Schweiz) für die «NZZ am Sonntag» erstellt hat.
Warum das so ist, kann niemand so genau sagen, auch Meteo Schweiz nicht. Naheliegend ist, dass es etwas mit dem sich verändernden Klima zu tun hat. Aber: «Winde sind keine Freunde der Klimawissenschaften, denn sie sind schwierig zu verstehen», sagt Heini Wernli, Leiter des Instituts Atmosphäre und Klima an der ETH Zürich. Über Parameter wie Temperaturen oder Feuchte wisse man relativ gut Bescheid. Doch Winde sind anders. «Es gibt viele chaotische und örtliche Faktoren, welche die Strömung beeinflussen.»
Das macht die Planung am Flughafen enorm schwierig. Denn es sind nicht nur die eigentlichen Bisentage, welche den Airlines zu schaffen machen. Es ist sind auch die Tage, an denen die Wetterlage unklar ist.
Dazu muss man wissen: In der Aviatik startet man am liebsten gegen den Wind, denn das sorgt für Auftrieb unter den Flügeln. Auch Seitenwinde sind kein grosses Problem. Davon halten Flugzeuge relativ viel aus.
Kommt der Wind allerdings von hinten, drückt das die startende Maschine hinunter auf den Boden. So wie der Flughafen Zürich gebaut ist, bedeutet Bise auf der Hauptstartpiste Rückenwind – zumindest so lange, bis die Flugsicherung Skyguide auf das Bisenkonzept umstellt. Mit bis zu zehn Knoten Rückenwind können die Flugzeuge in Zürich noch starten, dann wird die Piste dafür zu kurz.
Aber was ist, wenn die Bise mit acht oder neun Knoten bläst? «Wir müssen den Flugbetrieb schon reduzieren, bevor wir auf das Bisenkonzept umstellen. Sonst kann es in den Anflugsektoren zu einer Überlastung kommen», sagt Thomas Muhl, Tower-Chef von Skyguide am Flughafen Zürich. Und fügt an: «Nicht immer haben alle Partner dafür Verständnis – aber Sicherheit geht vor.»
Gemeint sind die Airlines, welche in höchstmöglicher Frequenz starten und landen wollen, bis es eben nicht mehr geht. Doch Wettervorhersagen sind keine exakte Wissenschaft. Wie der Wind bläst, kann man antizipieren, aber nie genau vorhersagen. Trotz drei verschiedenen Windmessanlagen auf dem Flughafengelände.
Skyguide gibt den Takt vor
Am Flughafen gibt Skyguide den Takt vor. Manchmal reduziert der Tower die Flugbewegungen aufgrund von Prognosen, um dann doch nicht auf das Bisenkonzept umzustellen, weil der Wind wieder gedreht hat. Das sorgt regelmässig zu hitzigen Diskussionen zwischen der Flugsicherung, den Airlines und dem Flughafen.
Skyguide, welche dem Bund gehört und für den Luftraum über der gesamten Schweiz zuständig ist, operiert in Zürich mit nicht weniger als vier verschiedenen An- und Abflugkonzepten. Das macht diesen zu einem der anspruchsvollsten Flughäfen überhaupt. Am Skyguide-Sitz in Dübendorf sind mehrere Tower-Simulatoren in Originalgrösse nachgebaut. Statt Fenster gibt es Bildschirme. Schnee, Nebel, Wind – hier kann jedes Szenario nachgespielt werden. Auch erfahrene Skyguide-Lotsen repetieren hier regelmässig das Bisenkonzept.
«Wir investieren Millionen, damit wir noch ein, zwei Prozent mehr Kapazität herausholen können», sagt Thomas Muhl. Zusammen mit der Swiss und dem Flughafen Zürich will sich Skyguide künftig einen eigenen Wetterprofi von Meteo Schweiz leisten, dessen Arbeitsplatz am Flughafen sein soll und der jederzeit beratend zur Seite stehen kann.
Aber wie machen das eigentlich andere Flughäfen? Haben die nicht auch mit Winden zu kämpfen? Warum ist nur Zürich so anfällig dafür?
Bläst die Bise zu stark, reduziert das die Kapazität des Flughafens Zürich um 40 Prozent.
Viel hat damit zu tun, wie der Flughafen gebaut ist. In Zürich ist er historisch gewachsen. Erst war es ein Flugfeld. Dann wurde die erste Piste gebaut. Im Verlauf der Zeit kamen weitere hinzu. Man nahm Rücksicht auf Anwohner, Moorlandschaften und die Hügel rundherum. Das gegenwärtige Pistensystem ist seit 1976 in Betrieb.
So wie der Flughafen Zürich heute dasteht, können bei normalen Verhältnissen die Pisten mehr oder weniger unabhängig voneinander betrieben werden. Das heisst: Ankommende und abfliegende Flugzeuge kommen sich nirgends in die Quere.
Bläst die Bise jedoch zu stark, müssen die startenden Flugzeuge Richtung Osten abheben – also gegen den Wind. Weil aber die Flugzeuge auf einer anderen Piste in südöstlicher Richtung landen, kommt es plötzlich zu einem Konflikt.
Vorbild Flughafen Istanbul
Dies, weil man immer damit rechnen muss, dass eine ankommende Maschine die Landung abbricht, durchstartet und geradeaus weiterfliegt. Piloten dürfen dies jederzeit tun. Sei das wegen plötzlicher Windstösse, weil das zuvor gelandete Flugzeug noch nicht ab der Piste gerollt ist oder weil sonst etwas nicht so läuft, wie es sollte. In Zürich startet im Schnitt ein Flugzeug pro Tag durch.
Passiert das, könnten sich beim Bisenkonzept das startende und das durchstartende Flugzeug sehr nahe kommen oder sich sogar kreuzen, was natürlich niemals geschehen darf. Denn dann besteht höchste Kollisionsgefahr. Deshalb bauen die Skyguide-Lotsen grössere Lücken zwischen An- und Abflug ein. Und das sorgt dann für die Verspätungen und Kosten bei den Airlines sowie den Frust bei den Passagieren.
In Aviatiker-Kreisen gilt die Pistenanordnung von Zürich denn auch als Beispiel dafür, wie man einen Flughafen nicht bauen sollte. Plant man heute einen Flughafen auf der grünen Wiese, dann liegen die Pisten parallel zueinander. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist das 2018 eröffnete Megaprojekt Istanbul International Airport in der Türkei, wo mittlerweile fünf Pisten nebeneinanderliegen. Weitere sind geplant. Dadurch können die Flugzeuge in höchster Kadenz starten und landen, ohne dass sie sich gegenseitig behindern. Dreht der Wind, starten und landen die Jets einfach in umgekehrter Richtung.
In Zürich kommt erschwerend die Politik hinzu. Vorgaben aus Deutschland schränken den Betrieb ein. Ebenso die Rücksicht auf Anwohner in der Schweiz punkto Fluglärm. Eigentlich läge ein Konzept vor, welches bei Biswinden die Flugkapazitäten erhöhen und die Risiken reduzieren könnte. Die Flugzeuge müssten Richtung Süden starten – und etwas länger über bewohntes Gebiet fliegen. Deshalb wurde es noch nicht bewilligt. Bis es so weit ist, wird es noch Jahre dauern.
Es ist paradox: Die Schweiz gilt als Vielfliegernation schlechthin. Der Flughafen ist das Tor zu den grossen Wirtschaftszentren dieser Welt: San Francisco, Mumbai, Schanghai. Aber die Flugzeuge über dem eigenen Kopf möchte dann doch niemand haben. «Die Politik sieht keinen Handlungsbedarf, weil es ja funktioniert. Dabei sind wir alle absolut am Anschlag», sagt Thomas Muhl, Tower-Chef von Skyguide.
Arbeitsplatz mit Aussicht: im Tower hoch über dem Terminal A des Flughafens Zürich.
Insbesondere zu den Spitzenzeiten am Mittag und am frühen Abend ist der Flughafen Zürich mehr als ausgebucht. Es kommen gleichzeitig so viele Flugzeuge an und fliegen ab, dass es null Puffer mehr gibt. Ist irgendwo Sand im Getriebe, ist es mit der Pünktlichkeit vorbei. Es bleibt dann nur noch Schadensbegrenzung. Eigentlich dürfte in Zürich regulär nur bis 23 Uhr geflogen und dürften bis 23 Uhr 30 noch Verspätungen abgearbeitet werden. Letzteres wird immer häufiger nötig.
Immerhin könnte die Pistenverlängerung, welche das Zürcher Stimmvolk im März angenommen hat, etwas zur Entspannung der Situation beitragen. Wenn sie dann einmal umgesetzt ist, erlaubt das den Piloten wahrscheinlich, mit etwas stärkerem Rückenwind zu starten.
Aber: «Die Windverhältnisse werden in Zukunft nicht stabiler werden», sagt Mark Ansems von der Swiss. Vorerst bleibt allen Beteiligten also nicht viel anderes übrig, als sich mit der Situation abzufinden. Sie haben keine Wahl. Der Flughafen ist nun einmal gebaut, wie er ist. Während Firmen anderer Branchen ihre Standorte regelmässig überprüfen, ist das in der Luftfahrt nicht so leicht. Die Swiss ist in Zürich zu Hause und kann ihren Hub nicht einfach von woanders betreiben.
Als letzte Massnahme kann die Swiss deshalb nur ihre Kunden so gut wie möglich aufklären. Sie thematisiert die Bise in ihrem Bordmagazin. «Ganz wichtig ist auch die Ansage des Piloten», sagt Mark Ansems. Im Wissen darum, dass es aus Sicht vieler Passagiere letztlich nur eine Verantwortliche gibt, wenn auf der Reise etwas schiefgeht: die Airline, bei der sie ihr Ticket gebucht haben.
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